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«Deutschland hat das Tabu der Grenzen gebrochen»

Der Entscheid Deutschlands hat die europäische Flüchtlingskrise weiter verschärft. Keystone

Mit dem Entscheid, seine Grenzen für Flüchtlinge wieder zu kontrollieren, habe Deutschland seine Willkommenskultur beendet, schreibt ein Teil der Schweizer Presse. Andere bezeichnen den Entscheid als strategischen Schritt, als Eskalationsstufe innerhalb der bisher erfolglosen EU-Diskussionen um Verteilquoten. Jedes europäische Land sei angesichts des anschwellenden Flüchtlingsstroms gefordert, auch die Schweiz.

«Die deutsche Regierung hat sich mit der Entscheidung nicht grundsätzlich von ihrer bisherigen Haltung abgewandt», schreibt die Neue Zürcher Zeitung. «Doch Berlin hat die Eskalationsstufe in der Krise erhöht.» Deutschland habe nicht seine Grenzen geschlossen, wie auf Twitter tausendfach, aber irreführend behauptet werde, denn «die Entscheidung wird nicht dazu führen, dass keine Flüchtlinge mehr ins Land kommen können. Deutschland hat vielmehr ein Zeichen gesetzt und zwar nach innen, als auch nach aussen».

«Die Realität hat die Regierung von Angela Merkel eingeholt und zu einem Kurswechsel gezwungen», schreibt hingegen der Blick. «Die Grenzen, die bisher so offen waren, werden aus Sicherheitsgründen auf einmal geschlossen. Ja, das Chaos bleibt draussen, aber andere Staaten dürfen es ausbaden.»

Mit dem Entscheid der Regierung Merkel, ab sofort wieder Grenzkontrollen einzuführen sei der «Traum der Deutschen von einem geliebten Land bereits geplatzt». Deutschland habe «mit seiner kopflosen Flüchtlingspolitik die EU gefährlich ins Wanken gebracht», so der Blick.

Es sei kein Zufall, dass Deutschland ausgerechnet am Tag vor dem EU-Innenministertreffen am 14. September in Brüssel Grenzkontrollen beschlossen habe, schreibt die Mittelland Zeitung. «Die Absicht lag darin, Druck aufzubauen. Vor allem gegenüber den osteuropäischen Ländern, die sich hartnäckig gegen eine konstruktive Lösung in der Flüchtlingskrise sperren.» Konkret bedeute das «eine verbindliche Quote für jedes EU-Land und eine geordnete Registrierung der Flüchtlinge in den EU-Staaten, die sie zuerst betreten – so wie es das Dublin-Abkommen vorsieht».

Kein Verteilschlüssel beschlossen

Gebracht hat das EU-Innenministertreffen gemessen an den Erwartungen und der durch den Entscheid Deutschlands weiter verschärften Flüchtlingskrise nicht mehr als eine politische Absichtserklärung. Auf rechtlich verbindenden Verteilquoten konnten sich die Innenminister nicht einigen. Entsprechend enttäuscht zeigte sich die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga, die ebenfalls am Ministertreffen teilgenommen hatte, da sich die Schweiz über das Dublin-Abkommen teilweise an der EU-Asylpolitik beteiligt.

Es scheine, «Europa ist für einen Paradigmenwechsel noch nicht bereit», sagte Sommaruga weiter. «Ich habe seit Jahren einen Verteilschlüssel gefordert.» Wenn man vorwärts kommen möchte, dann brauche es einen solchen Schlüssel.

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Selbst, wenn sich die EU-Staaten dereinst auf Verteilquoten einigten, werde das die Flüchtlingskrise nicht lösen, schreibt der Westschweizer Le Matin. «Die 160’000 Migranten, um die es bei dieser Frage geht, sind lediglich ein Wassertropfen im Vergleich zum Sturm», der noch auf Europa zukomme. Deutschland habe seine Grenze geöffnet und sei schnell an seine Kapazitätsgrenzen gestossen.

Nun sei jedes europäische Land gefordert, auch die Schweiz: «Die Schweiz wird von dieser Brandungswelle durchgeschüttelt werden, ob man es will oder nicht.» Darum müsse sie sich darauf vorbereiten und gleichzeitig «die Grenzen kontrollieren und zeigen, dass das sie human sein kann», so Le Matin.

Solidaritätsverweigerer im Osten

Europa stehe an einer «Wegmarke», diagnostizieren der Zürcher Tages-Anzeiger und Der Bund: «Die grenzenlose Reisefreiheit auf dem Kontinent gilt als eine der grössten Errungenschaften Europas. Unter dem Eindruck einer Völkerwanderung historischen Ausmasses ist sie nun in akuter Gefahr.»

Es räche sich nun, «dass die EU zwar eine Aussengrenze, aber keine europäische Asyl- und Migrationspolitik» habe. Es gäbe Länder wie Deutschland und Schweden, die für eine «humane Haltung und einen liberalen Umgang mit Asylsuchenden stehen. Auf der andern Seite stehen die Anhänger von Abschottung und Abschreckung. Das kann auf die Dauer nicht gut gehen».

Noch gäbe es Hoffnung, «dass die Staus an den Grenzübergängen die Solidaritätsverweigerer unter den Osteuropäern zur Besinnung bringen», schreibt der Kommentator und bezeichnet die Absichtserklärung der EU-Innenminister als «Schritt in die richtige Richtung».

Die Krise ruft nach Europa

Deutschland wolle mit seinem Entscheid «auch Druck auf die andern EU-Länder ausüben, vor allem auf die migrationsängstlichen Osteuropäer. Es wird Deutschland aber kaum gelingen», schreibt die Basler Zeitung, denn «die europäischen Länder werden es Deutschland gleichtun und die Grenzen schliessen. Das Tabu der Grenze ist gebrochen».

Die offenen Grenzen hätten erst «dann wieder eine Zukunft, wenn Europa ein anderes Kontrolldispositiv an der Aussengrenze entwickelt» und das sei «nicht absehbar». Die EU verkomme «vielmehr zu einem potemkinschen Dorf». Der Verfall der EU müsste ein «Fest für die Rechten sein», so die Basler Zeitung: «Aber was ist damit gewonnen? Diese Krise ruft geradezu nach Europa.»


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