Deutschland und die Schweiz: Wie ein altes Paar
Die erste Auslandsreise als Schweizer Bundespräsidentin führte Micheline Calmy-Rey nach Berlin. In den Gesprächen ging es um die Beziehungen der Schweiz zur EU und zu Deutschland - sowie um Freundschaftspflege.
Bei ihrem Antrittsbesuch in Deutschland hatte Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey ein straffes Programm. Am Mittag traf sie den deutschen Aussenminister Guido Westerwelle zu einem Arbeitsessen in der Schweizer Botschaft und wurde dann vom deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff mit militärischen Ehren empfangen.
Am Nachmittag sprach sie mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Abends diskutierte sie schliesslich mit Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle und dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestragsfraktion Volker Kauder im Rahmen einer Podiumsveranstaltung mit dem Titel «Bern-Berlin-Brüssel. Zwischen nationalen Interessen und europäischer Solidarität».
Die Schweizer Position erklären
Die Beziehungen der Schweiz zur EU stellten auch eins der Themen dar, über das Calmy-Rey mit Merkel diskutierte. Die Bundespräsidentin stellte klar, dass ein EU-Beitritt oder die automatische Übernahme von EU-Recht für die Schweiz nach wie vor nicht in Frage kämen.
Der bilaterale Weg müsse aber dynamisiert werden, um mehr Rechtssicherheit zu gewährleisten. Darüber wolle sie Anfang Februar mit EU-Kommissionspräsident Barroso reden.
«Die Souveränität der Schweiz und unsere Art der Entscheidungsfindung per Referendum müssen respektiert werden», sagte Calmy-Rey. Es ginge darum, diese spezielle Schweizer Position zu erklären, nicht darum, dass die Schweiz in Europa keinen solidarischen Beitrag leisten möchte.
«Deutschland ist eines jener Länder, welche die Schweizer Position in dieser Hinsicht am besten verstehen», so Calmy-Rey.
Über den Beitrag zum EU-Rettungsschirm beteilige sich die Schweiz zum Beispiel daran, die Eurokrise zu bewältigen, denn der Schweizer Wirtschaft sei an einem stabilen Euro gelegen.
Konstruktive Gespräche in Steuerfragen
Auch mit Blick auf die Steuerverhandlungen zwischen Deutschland und der Schweiz sprach Calmy-Rey von einem «sehr guten und konstruktiven Klima». Nachdem der Steuerstreit die deutsch-schweizerischen Beziehungen in den letzten Jahren getrübt habe, sei sie nun zufrieden, dass ein gemeinsamer Wille da sei, in den Verhandlungen zügig voranzukommen.
«Die Schweiz will kein Schwarzgeld auf dem Schweizer Finanzplatz haben», sagte Calmy-Rey. Ein automatischer Informationsaustausch, wie ihn die EU wünscht, komme zwar nicht in Frage. Mit einer Kombination aus bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen und den OECD-Standards für die Amtshilfe in Steuersachen gebe es nun aber einen lösungsorientierten Ansatz zu Regularisierung von unversteuerten Geldern deutscher Kunden auf Schweizer Bankkonten.
Im Gegenzug forderte Calmy-Rey, dass Schweizer Finanzdienstleister besseren Zugang zum europäischen Markt erhalten müssten.
Einzig in Bezug auf den Fluglärm-Streit am Flughafen Zürich und die Verzögerungen beim Ausbau der nördlichen NEAT-Zubringer scheinen nach wie vor Differenzen zwischen den Nachbarländern vorzuherrschen. In beiden Fragen haben Gespräche auf Ebene der Fachministerien begonnen und es herrscht zumindest Einigkeit darüber, dass Lösungen gefunden werden müssen.
Was den Ausbau der NEAT-Zubringer betrifft, haben die deutschen Gesprächspartner von Calmy-Rey jedoch klar zugestanden, dass der Handlungsbedarf auf deutscher Seite liege.
Viel zu sagen und zu tun
Beim dem Besuch ging es in erster Linie um die Beziehungspflege zweier Länder, die wirtschaftlich und kulturell eng verflochten sind.
«Es ist kein Zufall, dass mich meine erste Auslandsreise nach Deutschland führt», sagte Calmy-Rey. Die Beziehung zwischen Deutschland und der Schweiz verglich sie mit der eines alten Paares. «Aber nicht wie eines, das sich nichts mehr zu sagen hat, sondern eines, das sich viel zu sagen und gemeinsam viel zu tun hat“, sagte sie.
In entsprechender Atmosphäre spielte sich die abendliche Podiumsdiskussion ab, zu der die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik neben ihren Mitgliedern auch hochrangige Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft geladen hatte.
Calmy-Rey, Wirtschaftsminister Brüderle und CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Kauder, der auch Abgeordneter des Wahlkreises Rottweil/Tuttlingen im südlichen Baden ist, gaben sich voll des Lobes für das jeweils andere Land und betonten die engen freundschaftlichen Verbindungen der Nachbarn.
Besonders in den Grenzregionen, wie zum Beispiel auch im Grossraum Zürich, hätten die Nachbarländer gemeinsame wirtschaftliche Interessen, über die gemeinsame Sprache seien Deutschland und die Deutsch-Schweiz auch kulturell eng verbunden.
Gerade in Fragen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, aber auch hinsichtlich der Schweizer Position zur EU teilten die drei Podiumsteilnehmer aber auch immer wieder kleine Seitenhiebe aus.
So brachte Kauder das Gespräch zum Beispiel auf die Debatte um deutsche Professoren in der Schweiz und zum Thema EU sagte er: «Manchmal hat man den Verdacht, die Schweiz wolle alle Vorteile der EU, die Schweizer Identität dabei aber in vollem Umfang wahren.»
Auch Brüderle ist der Ansicht, dass die Schweiz und die EU noch eine ganze Weile in einem Spannungsverhältnis werden leben müssen. «Das Liebeswerben wird noch länger dauern», sagte er, gab sich aber überzeugt, dass es eines Tages von Erfolg gekrönt sein werde.
Calmy-Rey wiederum sagte, sie wünsche sich, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz auch in Zukunft weiterhin freundschaftlich seien.
«In der Aussenpolitik geht es aber nicht nur um Liebe und Freundschaft, sondern auch um Interessen», erinnerte sie – fast so, als wolle sie klarstellen, dass sich das alte Paar Deutschland-Schweiz wohl auch in Zukunft immer mal wieder zanken wird.
Der Steuerstreit zwischen Deutschland und der Schweiz hat sich mit der Unterzeichnung eines Doppelbesteuerungsabkommens im Herbst 2010 beruhigt.
Es sieht vor, dass eine anonyme Abgeltungssteuer auf in der Schweiz angelegte Gelder deutscher Kunden erhoben wird.
Derzeit verhandeln die Finanzministerien über die Details: die Höhe der Abgeltungssteuer sowie die Ausgestaltung der Amtshilfe im Fall von Steuerbetrug.
Für Unstimmigkeiten im Deutsch-Schweizer Verhältnis sorgt noch immer der Streit um den Lärm am Flughafen Zürich.
Die Fronten sind weiter verhärtet: Deutschland hält an eingeschränkten Flugzeiten fest, um die süddeutsche Bevölkerung vor Fluglärm zu schützen. Zürich argumentiert, dass auf Schweizer Seite viel mehr Menschen unter dem Fluglärm leiden.
Eine Arbeitsgruppe versucht, objektive Verhandlungsgrundlagen für den Lärmstreit zu schaffen, doch eine Lösung ist nicht in Sicht.
Ein weiterer Streitpunkt sind die Verzögerungen beim Ausbau der nördlichen NEAT-Zubringer auf deutscher Seite.
Wegen Bürgerprotesten der Anwohner wurde kürzlich der Ausbau einer Teilstrecke der Rheintalbahn zwischen Basel und Karlsruhe gestoppt.
Ein Staatsvertrag zwischen Deutschland und der Schweiz von 1996 sieht vor, dass die NEAT-Zubringer bis 2017 fertig sein müssen.
Heute schon ist klar, dass sich der Ausbau um mehrere Jahre verzögern wird.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch