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Deutschland wählt: «Genervt von hohlen Phrasen»

"Hohle Phrasen und bunte Versprechungen" in Deutschlands Wahlkampf. Keystone

Die Schweizer Politikwissenschaftlerin Dorothée de Nève über die Erwartungen von Bürgerinnen und Bürgern an den deutschen Wahlkampf, der allgemein als inhaltsleer wahrgenommen wird, und Peer Steinbrücks Stinkefinger-Geste.

In Deutschland hat der Endspurt vor der Bundestagswahl begonnen. Über 60 Millionen Deutsche sind aufgerufen, am 22. September ein neues Parlament zu wählen. Die Stimmenden entscheiden, wer in den nächsten Jahren im Bundestag vertreten sein wird und wer Deutschland künftig regieren soll.

Die Schweizer Politikwissenschaftlerin Dorothée de Nève, die derzeit am Institut für Politikwissenschaft an der Fernuniversität Hagen lehrt, hatte 2009 nach den Wahlen rund 500 Brief von Leserinnen und Lesern analysiert, die zum Thema Bundestagswahl bei der Mitteldeutschen Zeitung eingegangen waren. swissinfo.ch wollte von ihr wissen, was die Leser von den Bundestagswahlen halten.  

Steinbrücks Stinkefinger-Geste sorgte in den vergangenen Tagen für grosses Aufsehen in der deutschen Öffentlichkeit sowie in den Medien im In- und Ausland. Das Foto war in einem Interview ohne Worte, dem «Sagen-Sie-jetzt-nichts»-Interview des SZ-Magazins entstanden; das Magazin liegt jeden Freitag der Süddeutschen Zeitung bei.

Als «Merkel-Raute» wird eine für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) typische Haltung ihrer Hände bezeichnet. Diese Merkel-Raute ist derzeit in Grossformat auf einem Riesenplakat in der Nähe des Berliner Hauptbahnhof zu sehen. Daneben wirbt die CDU mit dem Slogan «Deutschlands Zukunft in guten Händen»:

swissinfo.ch: Das Cover des aktuellen Magazins der Süddeutschen Zeitung zeigt Peer Steinbrück mit erhobenem Mittelfinger. Glauben Sie, dass war ein guter Schachzug des Kanzlerkandidaten der Sozialdemokraten?

Dorothée de Nève: Das umstrittene Bild ist im Rahmen eines so genannten Interviews ohne Worte entstanden. Bei diesem Format haben auch schon andere – wie zum Beispiel Ursula von der Leyen [Bundesministerin für Arbeit und Soziales, CDU – Anm. d. Red.] – zu starken Gesten gegriffen. Steinbrücks Stinkefinger war die provokative Antwort auf die Frage: «Pannen-Peer, Problem-Peer, Peerlusconi – um nette Spitznamen müssen Sie sich keine Sorgen machen, oder?». Das war also eine Replik zur medialen Berichterstattung über Steinbrück und keineswegs eine Botschaft an die Wählerinnen und Wähler.

Die Politikwissenschaftlerin Dorothée de Nève stammt aus Stans (Kanton Nidwalden) und lebt seit 21 Jahren in Deutschland. Sie forscht zu den Themen Politische Partizipation, Politik und Religion und Demokratie/Postdemokratie.

Sie hat derzeit eine Vertretungsprofessur am Institut für Politikwissenschaft an der Fernuniversität Hagen inne.

swissinfo.ch: Steinbrück selbst findet, auch im Bundestagswahlkampf muss es erlaubt sein, sich unkonventionell zu geben, um Humor in den Wahlkampf zu bringen. Fehlt dem deutschen Wahlkampf Humor?

D.d.N.: Steinbrücks Pose ist zweifellos unkonventionell. Ob sie auch von Humor zeugt, ist streitbar. In jedem Fall ist sie eine Provokation – das belegen zumindest die öffentlichen Reaktionen und lebendigen Debatten über das Foto.

Die Reaktionen der Bürgerinnen und Bürger sind übrigens zum Teil sehr unterhaltsam. Und letztlich hat ja auch die CDU mit der Anbringung eines Riesenplakats mit der so genannten Merkel-Raute in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs durchaus Humor bewiesen. In beiden Fällen wird also mit markanten Bildern Politik gemacht. In der Politik geht es um mehr als Worte. Bilder, Symbole und Emotionen spielen eine wichtige Rolle.

Dorothée de Nève hat mehr als 500 Briefe von Leserinnen und Lesern analysiert, die von August bis Oktober 2009 zum Thema Bundestagswahl bei der Mitteldeutschen Zeitung eingegangen sind.

Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Bürgerinnen und Bürger den Wahlkampf als «sich ewig wiederholende Rituale» wahrnehmen, «derer sie im Grunde längst überdrüssig sind».

Bürgerinnen und Bürger erwarten stattdessen eine niveauvollere und inhaltlich substanziellere politische Auseinandersetzung sowohl im Wahlkampf selbst als auch in der medialen Berichterstattung über Wahlen, so das Fazit der Analyse.

Sie ist im August unter dem Titel «Diese ewigen Diskussionen sind gelinde gesagt unerträglich!» – Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger im Kontext der Bundestagswahl (2009) in Deutschland in der polis-Reihe erschienen.

swissinfo.ch: Die SPD hat bei der letzten Bundestagswahl vor vier Jahren viele Stimmen verloren, weil ein wichtiger Teil ihrer potentiellen Wählerschaft nicht an die Urne ging. Denken Sie, Herr Steinbrück kann auf diese Weise Menschen mobilisieren, doch noch zur Wahl zu gehen?

D.d.N: Für die Mobilisierung der Nichtwähler spielt diese Form der politischen Kommunikation eine nachgeordnete Rolle. Für die Mobilisierung der Wählerinnen und Wähler dürfte in der letzten Phase des Wahlkampfes viel entscheidender sein, dass es bei der Stimmabgabe tatsächlich um etwas geht – zum Beispiel um die Frage, welche Parteien überhaupt im Bundestag vertreten sein werden beziehungsweise welche Parteien an der Regierung beteiligt werden.

swissinfo.ch: Ein Fazit Ihrer Analyse von Leserbriefen im Kontext der Bundestagswahl von 2009 (Vgl. rechte Spalte) lautet: Bürgerinnen und Bürger erleben Wahlkampf als eine Art inhaltsleeren Balztanz der Parteien um die Gunst der Wähler. Sie erwarten stattdessen eine niveauvollere und inhaltlich substanziellere politische Auseinandersetzung im Wahlkampf. Lassen sich diese Ergebnisse auf den aktuellen Wahlkampf übertragen?

D.d.N.: Sicherlich. Meine Analysen der Briefe von Leserinnen und Lesern an die Mitteldeutsche Zeitung belegen, dass Bürgerinnen und Bürger genervt sind von den Versuchen, sie mit hohlen Phrasen und bunten Versprechungen einzulullen. Sie wünschen sich, dass sie mit ihren souveränen politischen Rechten ernst genommen werden. Übrigens nicht nur in Wahlkampfzeiten.

swissinfo.ch: Für Ihre Analyse haben Sie ausschliesslich Zuschriften an die Mitteldeutsche Zeitung analysiert. Inwiefern lassen sich Ihre Ergebnisse für ganz Deutschland verallgemeinern?

D.d.N.: Vieles spricht dafür, dass die Statements zu Wahlen sowie zu Politikerinnen und Politikern in den Leserbriefen unterschiedlicher Medien relativ ähnlich sind. Grössere Unterschiede in der Lesermeinung sind jedoch in Bezug auf bestimmte gesellschaftspolitische Themen zu erwarten, wie zum Beispiel die Thematik der Wende, der Euro-Krise oder zu Themen wie Religion.

 

swissinfo.ch: Der Wahlkampf von Bundeskanzlerin Angela Merkel wird oft als glattgebügelt und aussagelos wahrgenommen. Ihr Schlussatz im TV-Duell gegen Peer Steinbrück – und damit ihre Botschaft an die Wählerinnen und Wähler – lautete: «Sie kennen mich.» Kann ihr dieser Satz vier weitere Jahre als Kanzlerin einbringen?

D.d.N.: Frau Merkel wird sicherlich nicht wegen dieses Satzes wieder Kanzlerin. Auch wenn sie – wie alle Umfragen belegen – viele Sympathien auf ihrer Seite hat. Bei der Bundestagswahl handelt es sich nicht um ein Duell zwischen zwei Personen. Zur Wahl stehen 34 Parteien mit ihren Programmen.

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