Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Abstimmung in Moutier, «ein schönes Beispiel gelebter Demokratie»

Auch wenn er zu den Verlierern gehörte, liess es sich dieser Bernjurassier nicht nehmen, bei den Feierlichkeiten nach der Ankündigung des Wechsels des Städtchens Moutier zum Kanton Jura mitzumachen. Keystone

Eine Rekordbeteiligung von 90%, Jubelszenen bis spät in die Nacht, keine besonderen Vorfälle zu berichten: Das Städtchen Moutier habe am Sonntag ein echtes Demokratiefest erlebt, schätzt Dick Marty, der in den letzten Jahren an einer Lösung des wichtigsten Territorialkonflikts der Nachkriegszeit in der Schweiz gearbeitet hat.

Dick MartyExterner Link ist der Mann für heikle Missionen. Der ehemalige Tessiner Staatsanwalt hat sich durch seine Untersuchungen zu Geheimgefängnissen der CIA oder zum Organhandel im Kosovo international einen guten Ruf erarbeitet. Seit 2010 steht er der «Assemblée interjurassienne»Externer Link (Interjurassische Versammlung, AIJ) vor, deren Ziel die Aussöhnung der Kantone Bern und Jura ist.

Die AIJ sei 1994 nach ernsthaften Ereignissen und beunruhigenden Spannungen in der Region ins Leben gerufen worden, erinnert sich Marty. Sie sei deshalb etwas ganz Neues in der institutionellen und konstitutionellen Landschaft der Schweiz gewesen. Die Rolle des Tessiners ist die eines Vermittlers in der Lösung des Jurakonflikts. Er wird dieses Amt im Herbst abtreten.

«Wenn man die Emotionen sieht, die am Sonntag gezeigt wurden, kann man sagen, dass diese Frage die Menschen zutiefst in ihren Herzen bewegt hat.» Dick Marty, Präsident der AIJ

swissinfo.ch: Mit 51,7% sagte Moutier Ja, dem Kanton Jura beizutreten und den Kanton Bern zu verlassen. Was halten Sie von der Abstimmung vom 18. Juni 2017?

Dick Marty: Moutier hat am Sonntag ein schönes Beispiel gelebter Demokratie gezeigt. Erstens ist die hohe Stimmbeteiligung von fast 90 Prozent zu erwähnen, was selten so in der Schweiz zu sehen ist.

Dann war da diese unglaubliche Mobilisierung der Bevölkerung nach Bekanntgabe des Ergebnisses. Solche Sachen sieht man normalerweise nur bei Konzerten oder Sportveranstaltungen. Diesmal aber gingen die Menschen auf die Strasse, um ein politisches Ideal zu feiern. Das ist etwas Einmaliges.

swissinfo.ch: Der Beweis, dass die Schweizer Demokratie noch starke Emotionen hervorrufen kann?

D.M.: Wir haben wirklich ein wahres Fest der Demokratie erlebt. Man muss aber unterstreichen, dass der Sonntag nur verstanden werden kann, wenn man die Geschichte der Jurafrage kennt. Diese Geschichte hat tiefe Spuren in der Bevölkerung hinterlassen. Die Emotionen daraus wurden von Generation zu Generation weitergegeben, was sich am Sonntag im grossen Jubel in der Bevölkerung entladen hat.

swissinfo.ch: Auf Seiten der Berntreuen war viel Verbitterung zu spüren. Werden die beiden Lager weiterhin zusammenleben können, trotz des knappen Ausgangs der Abstimmung?

D.M.: Nach einer solchen Abstimmung ist klar, dass es Jubelnde und Enttäuschte gibt. Das gehört zum demokratischen Prozess und ist zu akzeptieren. Nun beginnt aber die schwierige und komplexe Phase der Verhandlungen für den effektiven Übertritt der Gemeinde Moutier in den Kanton Jura.

Ich bin aber zuversichtlich, was die Fortsetzung des Prozesses betrifft, weil wir einen fruchtbaren Dialog zwischen Jurassiern und Bernern in Gang bringen konnten, der auch in Zukunft so weitergeführt werden sollte.

swissinfo.ch: Gehört die Jurafrage nach der Abstimmung vom Sonntag in Moutier definitiv der Vergangenheit an?

D.M.: Geschichte hat nie ein Ende. Aber aus institutioneller Sicht wurde die Jurafrage abgeschlossen. In ihrer Absichtserklärung von 2012 haben die Regierungen der Kantone Jura und Bern klargemacht, dass die Gemeindeabstimmung das Ende des Prozesses in der Jurafrage bedeutet.

Dick Marty zeigte sich beeindruckt von Emotionen und Leidenschaft rund um die Wahl vom Sonntag in Moutier. Keystone

Natürlich müssen wir noch eine Abstimmung in den Kantonen Bern und Jura organisieren, um das Plebiszit von Moutier zu billigen. Die Berner Regierung hat aber klar gesagt, dass sie sich den Entscheiden der Gemeinden, die dem Kanton Jura beitreten möchten, nicht entgegenstellen werde (in einigen weiteren Gemeinden steht diese Abstimmung noch aus, N.d.R.).

swissinfo.ch: Sie standen sieben Jahre lang der Interjurassischen Versammlung (AIJ) vor. Welche Bilanz ziehen Sie?

D.M.: Zuerst war es gar keine leichte Aufgabe. Die Vertreter der beiden Lager grüssten sich nicht, das Misstrauen war gross. Doch Tag für Tag brachte der Dialog, den die AIJ in Gang brachte, eine neue Gesprächskultur hervor.

Die Leute lernten sich kennen und freundeten sich sogar an, trotz ihrer sehr unterschiedlichen Meinungen. Über die Prüfung von konkreten Problemen, welche die beiden Regionen betrafen, merkten die Vertreter der beiden Lager, dass sie viele Gemeinsamkeiten hatten.

Zudem wurden in Solothurn geheime Konsultationen zwischen den Mitgliedern der Regierungen von Jura und Bern organisiert. Bei diesen Treffen auf neutralem Boden wurde der Prozess zur Lösung der Jurafrage angestossen. Ich erinnere mich heute noch sehr gerne daran.

swissinfo.ch: Warum ist der Lösungsprozess der Jurafrage in Ihren Augen beispielhaft?

«Der Prozess war sehr zeitintensiv, doch er ermöglichte es, ein Problem zu lösen, das andernorts unter gleichen Voraussetzungen hätte in gewaltsame Konflikte umschlagen können.» Dick Marty, Präsident der AIJ

D.M.: Wir haben zur Lösung dieses Konflikts die gesamte Bandbreite der Instrumente angewandt, welche die Demokratie der Schweiz bietet. Es wurden Abstimmungen auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene organisiert. Der Prozess war sehr zeitintensiv, doch er ermöglichte es, ein Problem zu lösen, das andernorts unter gleichen Voraussetzungen hätte in gewaltsame Konflikte umschlagen können.

Die Arbeit der AIJ weckte grosses Interesse bei Vertretern von Ländern, die ähnliche Konflikte kennen. Das hat uns überrascht. Erst kürzlich hat uns ein katalanischer Delegierter bei der Arbeit unterstützt. Er kannte die Geschichte der Jurafrage und den AIJ besser als fast alle meiner Landsleute.

swissinfo.ch: Kann dieses Rezept in anderen Weltgegenden angewandt werden?

D.M.: Man kann das Modell nicht einfach so übertragen, weil unser demokratisches System nicht exportierbar ist. Hingegen ist der ritualisierte Dialog, den wir mit der AIJ in Gang gebracht haben, ein Erfolg, der andere Länder inspirieren kann.

Ein Beispiel: Die Diskussionen zwischen jurassischen und bernischen Vertretern wurden nach einer vorbestimmten Reihenfolge durchgeführt. Es konnten sich nicht einfach alle dann zu Wort melden, wenn ihnen danach war. Auch wenn diese Situation zu Beginn etwas unbequem war, hat sie in der Folge den einen oder anderen ermöglicht, in gegenseitigem Respekt zu sprechen und zuzuhören.

swissinfo.ch: Sie haben in den Affären um geheime Gefängnisse der CIA oder Organhandel in Kosovo ermittelt. Schien Ihnen dabei die Jurafrage nicht manchmal etwas trivial?

D.M.: Kein Kampf ist vergeblich, aber es gibt Probleme, die sich unterschiedlich auf die Menschen auswirken. Wenn man die Emotionen sieht, die am Sonntag gezeigt wurden, kann man sagen, dass diese Frage die Menschen zutiefst in ihren Herzen bewegt hat.

Man muss die Dinge aber klar in den Kontext stellen: Ich war kürzlich auf den Philippinen, im Rahmen einer Mission der Weltorganisation gegen Folter. Ich war erschüttert über die absolut katastrophale Situation von minderjährigen Inhaftierten. Also, Ja, auf dem Rückflug dachte ich über die Jurafrage nach und sagte mir, dass wir wirklich in einem sehr glücklichen Land leben.

Mehr
Kuss

Mehr

Gesichter der Demokratie

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Es sind immer Menschen, die Geschichte schreiben. Und es sind viele Menschen, wenn eine Demokratie wie in Moutier Geschichte schreibt.

Mehr Gesichter der Demokratie
​​​​​​​

Weitere Abstimmungen

Das «Ja» von Moutier wird in nächster Zeit zu keinen territorialen Verschiebungen führen. Die Regierungen der Kantone Bern und Jura werden nun den Prozess in Gang bringen, um den Kantonswechsel des Städtchens Moutier zu konkretisieren. Dieser soll am 1. Januar 2021 Realität werden.

Die beiden Regierungen werden ein interkantonales Konkordat schaffen, dem auch die weiteren bernjurassischen Gemeinden angehören werden, die sich noch zu einem Austritt aus dem Kanton Bern entschliessen sollten. Das Dokument muss danach durch den Berner Grossen Rat und das jurassische Parlament ratifiziert werden.

Laut einem Kalender der jurassischen Kantonsregierung soll im ersten Quartal 2019 in den Kantonen Jura und Bern gleichzeitig eine Abstimmung durchgeführt werden. Sollte das Berner Stimmvolk die Vorlage ablehnen, würden Moutier und eventuell weitere wechselwillige Gemeinden bernisch bleiben.

Sollte das Stimmvolk beider Kantone Ja sagen, würde die Angelegenheit dem Eidgenössischen Parlament vorgelegt, das via Dekret über die territorialen Veränderungen entscheiden soll. Die Schweizer Bevölkerung wird dazu nicht mehr an die Urnen gerufen.

​​​​​​​

(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft