«Die ausländische Wohnbevölkerung ist zu gross, um sie zu ignorieren»
Jede dritte Person in der Schweiz darf nicht an nationalen Wahlen und Abstimmungen teilnehmen. Die meisten davon, weil sie keinen Schweizerpass haben. Wie fühlt es sich an, in jenem Land zu wohnen, das weltweit die meisten Volksabstimmungen durchführt, ohne selbst mitbestimmen zu können?
Sie hat einen ecuadorianischen sowie einen deutschen Pass und lebt seit vier Jahren in der Schweiz. Aber Estefania Cuero, Diversitätsberaterin und Doktorandin an der Universität Luzern, sagt: «Ich habe schon in verschiedenen Ländern gewohnt, doch was ich bisher erst in der Schweiz erlebt habe, ist die direkte Konfrontation damit, dass andere Einwohner:innen über mein Leben, mein Wohlbefinden entscheiden. Das ist für mich sehr neu – und teilweise sehr unangenehm.»
Für dieses Gefühl sind spezifische Themen verantwortlich: «Gerade die Abstimmung über das Burkaverbot hat mich sehr getroffen. Ich habe mich nicht willkommen gefühlt – obwohl ich keinen Niqab trage und keine Muslimin bin. Für mich stand dahinter die Botschaft: Wir wollen keine Menschen hier sehen, die wir als fremd empfinden», sagt Cuero.
Die direkte Demokratie dient zwar dazu, die Bevölkerung in die politischen Entscheidungen einzubinden. Die regelmässigen Volksentscheide machen aber auch immer wieder deutlich, wer nicht zum Stimmvolk gehört.
Von den rund 8,7 Millionen Menschen in der Schweiz sind etwa 35% auf nationaler Ebene nicht stimmberechtigt. «Häufig wird gesagt: ‹Die Schweiz hat gewählt, die Schweiz hat abgestimmt.'», so Cuero. «Doch wenn 35% nicht abstimmen können, ist eine solche Aussage schwierig, wenn nicht sogar falsch. Es ist nicht die Schweiz, es sind ganz bestimmte Personen bzw. eine Gruppe, die über andere entscheiden kann und damit eine Herrschaft über andere Gruppen, die zur Schweiz gehören, ausübt.»
Die grösste Gruppe, die bei nationalen Themen nicht mitentscheiden kann, sind die Ausländer:innen. Da verhält sich die Schweiz wie fast alle Länder. Es gibt nur vier Nationen weltweit, in denen Personen ohne Bürgerrecht auf nationaler Ebene stimm- und wahlberechtigt sind: Chile, Uruguay, Neuseeland, Malawi.
In der Schweiz ist die Frage nach der Beteiligung der ausländischen Wohnbevölkerung aber drängender als in anderen Ländern, da der Ausländer:innenanteil hoch ist: Rund jede vierte Person im Land hat keinen Schweizerpass.
In einigen Gemeinden kann das zu seltsamen Situationen führen: In Spreitenbach etwa wohnten während der nationalen Wahlen 2019 gleich viele volljährige Ausländer:innen wie Stimmberechtigte. Insgesamt machte das Elektorat der Stimmberechtigten nur 39% der Bevölkerung aus. Weil zudem die Stimmbeteiligung in Spreitenbach sehr tief war, nahmen nur 10% aller Einwohner:innen an den Wahlen teil.
Sehr lange war ein anderer, riesiger Teil der Gesellschaft von der demokratischen Teilhabe ausgeschlossen: Die Frauen.
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Fremdbestimmt
«Der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung hat eine Grösse erreicht, die man nicht mehr länger ignorieren kann», sagt Sanija Ameti, Co-Präsidentin der Operation Libero.
Als Ameti drei Jahre alt war, flohen ihre Eltern mit ihr aus Bosnien in die Schweiz. In ihrer Jugend kamen vor allem aus der Reihe der Schweizerischen Volkspartei (SVP) mehrere Volksinitiativen, die sich Migrationspolitik beschäftigten und häufig Stimmung gegen die Diaspora aus den Balkanstaaten machten.
«Meine Eltern und ich konnten bei diesen Abstimmungen nicht mitreden, obwohl wir direkt davon betroffen waren. Das war extrem frustrierend, denn man konnte nichts Anderes tun, als die ausländer- und muslimfeindliche Politik auf unserem Buckel erdulden», sagt Ameti. Das sei einer der Gründe, der sie dazu brachte, in die Politik zu gehen.
«Die Masseneinwanderungsinitiative hat mich politisiert», sagt Hendrik Jansen, der in der Schweiz geboren wurde, hier zur Schule ging und studierte. Heute arbeitet er in einer öffentlichen Verwaltung und kann sich daher nicht öffentlich politisch äussern, weshalb wir seinen Namen änderten.
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Er betont, dass er es als Niederländer einfacher habe als andere Migrant:innen: «Mit Personen aus Nordeuropa hat man selten ein Problem. Wenn ich sage, woher ich komme, heisst es oft: ‹Du gehörst doch zu den Guten!'» Doch vor dem Gesetz spielt das keine Rolle: Von einem schärferen Auschaffungsgesetz etwa sind alle ohne Schweizerpass gleich betroffen.
Mitbestimmen als Integrationsmassnahme?
Jansen könnte mitentscheiden, wenn er sich einbürgern liesse. Was spricht also gegen diesen Schritt? «Zumindest auf Gemeindeebene sollte die Staatsangehörigkeit kein Kriterium sein», findet Jansen. Er ist aktiv in Vereinen, leistet Freiwilligenarbeit: «Wenn ich mich für die Gesellschaft engagiere, sollte ich mitbestimmen können.»
Damit spricht Jansen einen zentralen Punkt in der Argumentation der Befürwortenden des Ausländer:innenstimmrechts an: Einwohner:innen ohne Schweizerpass nehmen ganz normal am gesellschaftlichen Leben teil und bezahlen hier Steuern. Die Frage stellt sich: Weshalb sollen sie nicht mitbestimmen können, was mit diesem Geld geschieht? Ausserdem sind sie von den Gesetzen in der Schweiz – wie alle anderen hier lebenden – direkt betroffen.
Das führt zu einer weiteren Frage: Weshalb soll ein Bevölkerungsteil nicht mitbestimmen können über die Regeln, an die er sich halten muss? Dabei gewährt die Schweiz sogar Personen das Stimmrecht, die hier weder Steuern zahlen noch direkt von den meisten Gesetzen betroffen sind – den Auslandschweizerinnen und -schweizern.
Auch wenn Hendrik Jansen den roten Schweizer Pass wollte, er könnte sich momentan gar nicht einbürgern lassen: Er ist kürzlich umgezogen. Zwar nur wenige Kilometer, aber über eine Gemeindegrenze. Das bedeutet, dass er mit einem möglichen Einbürgerungs-Antrag wieder mehrere Jahre warten muss.
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Ameti dagegen liess sich einbürgern und ist heute als Politikerin der Grünliberalen Partei aktiv. Sie betont: «Ich hatte das Glück, die Einbürgerung in der Stadt Zürich machen zu können. Der Einbürgerungsprozess ist nicht überall so fair, in einigen Gemeinden wird man regelrecht schikaniert.»
Ameti findet, man solle wieder vermehrt die Idee in den Vordergrund stellen, Integration über die Teilhabe zu erreichen. Dass das funktionieren kann, zeigt das Beispiel von Jens Weber.
Weber lebt in der Appenzellischen Gemeinde Trogen, eines der wenigen Dörfer in der Deutschschweiz, dass das Ausländerstimmrecht kennt (siehe Infobox). Als Amerikaner wurde er 2006 in den Gemeinderat gewählt. «Es war einer der besten Tage in meinem Leben, als ich 2006 in Trogen hin ging und sagen konnte, ’so, jetzt kann ich mitmachen!'», sagte er an einem Panel von SWI swissinfo.ch. «Diese Erfahrung hat mich wesentlich geprägt und mich zur Überzeugung gebracht, dass ich Schweizer Bürger werden wollte», sagt er.
In fast allen Kantonen der Westschweiz kann die ausländische Wohnbevölkerung auf Gemeinde-, mancherorts auch auf Kantonsebene abstimmen und wählen. In der Deutschschweiz dagegen können sich Ausländer erst in einigen Gemeinden in den Kantonen Appenzell Ausserrhoden und Graubünden an der Urne politisch beteiligen. In einigen weiteren Kantonen wie etwa Zürich wird über das Ausländerstimmrecht diskutiert. Im Kanton Solothurn wurde erst im September eine Initiative für das Ausländerstimmrecht abgelehnt.
Diversität der Schweiz als Selbstverständnis
Eine mögliche Reform von Abstimmungsgesetzen oder der Einbürgerungsgesetze sind jedoch nicht alleine entscheidend, wenn man der grossen Bevölkerung ohne Bürger:innenrecht in der Schweiz gerecht werden will.
«Es bedarf einer ehrlicheren Auseinandersetzung damit, was und wer die Schweiz ist. Wir brauchen ein Selbstverständnis der Schweiz, das die vorhandene Diversität dieser Gesellschaft widerspiegelt» fordert Cuero.
«Wer behauptet, es gebe die Schweizer Kultur, soll mir einmal den Röstigraben erklären», sagt Jansen. «Schweizer:innen sind auch nicht alle gleich. Zwischen ihnen gibt es Unterschiede, die nicht unbedingt kleiner sind als die zwischen einem Schweizer und einer Ausländerin.»
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