Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

«Wir hatten keine politische Verbindung zu den Roten Brigaden»

Der rote Renault, in dem am 9. Mai 1978 die Leiche von Aldo Moro, Parteipräsident der Democrazia Cristiana, gefunden wurde
Der rote Renault, in dem am 9. Mai 1978 nach einem Anruf des Rotbrigadisten Valerio Morucci in der Römer Strasse Via Michelangelo Caetani die Leiche von Aldo Moro, Parteipräsident der Democrazia Cristiana, gefunden wurde. Keystone

Die Geschichte eines Tessiner Aktivisten, der während der bleiernen Jahre mit Organisationen der italienischen extremen Linken zusammenarbeitete.

«Als Aldo MoroExterner Link entführt wurde, war ich zusammen mit Toni NegriExterner Link und zwei weiteren Freunden in Paris, wo ich damals lebte. Wir nahmen an eine Demonstration teil, und als wir in Saint-Germain ankamen, hörten wir die Rufe der Zeitungsjungen von Le Monde», erzählt A.A. (fiktiver Name).

«Ich erinnere mich, dass meine Reaktion, eine Mischung zwischen Euphorie und Erstaunen, von meinen Begleitern sofort gedämpft wurde», besonders von Negri, «der wutentbrannt perfekt vorhergesagt hatte, dass die Aktion der Roten Brigaden eine starke Reaktion [des Staats] auslösen würde».

Das ist die Geschichte von A.A., einem der fünf Tessiner, die am einzigen echten Verfahren beteiligt waren, bei dem es in der Schweiz um den Linksextremismus während den bleiernen Jahren Italiens ging.

Der Prozess am Strafgerichtshof von Locarno war am 30. Oktober 1981 mit Haftstrafen von acht Monaten bis zu zwei Jahren und sieben Monaten zu Ende gegangen. Er brachte die Verbindungen zwischen der lokalen Gruppe und Exponenten des bewaffneten Kampfs in Italien ans Licht.

Die Verurteilten hatten in der Schweiz Unterschlupf und logistische Unterstützung angeboten, unter anderem durch mehrere Waffendiebstähle in der italienischsprachigen Schweiz.

«Wir waren fasziniert von Italien, weil es dort ein politisches Labor gab.»

Einfluss italienischer Bewegungen

Anfang der 1970er-Jahre begünstigte nicht nur die geografische Nähe die Bildung von Beziehungen zwischen der extremen Tessiner Linken und ausserparlamentarischen Bewegungen in Italien. Wie etwa jene, welche die in den späten 1960er-Jahren in Bellinzona gegründete progressive Jugendbewegung (Movimento giovanile progressista, MGP) mit Negris italienischer Bewegung «Potere Operaio» (Arbeitermacht) knüpfte. Aus der MGP wurde in den 1970er-Jahren die «Lotta di Classe» (Klassenkampf).

In der linksradikalen Politik «gab es in dieser Zeit zwischen 68 und 70 ein Vakuum, das wir alleine kaum füllen konnten», sagt A.A. «Die MGP hatte in der Tat eine grössere Mobilisierungskraft als die PSA [Sozialistisch-autonome Partei; eine Bewegung, die schrittweise ins Tessiner Parlament und in die Kantonsregierung einzog, N.d.R.].»

«Wir waren fasziniert von Italien, weil es dort ein politisches Labor gab, während das Tessin mit seinen Banken und dem Tourismus wenig zu bieten hatte.» Zudem waren «die Schulen zur Normalität zurückgekehrt, der Konflikt war beendet».

Deshalb war es für A.A. ein natürlicher Schritt, die Zusammenarbeit mit den Kameraden auf der anderen Seite der Grenze zu intensivieren. «Ich habe mich an der Universität Padua eingeschrieben, wo Toni Negri, Ferruccio Gambino und andere Führerfiguren des Potere Operaio unterrichteten», so der ehemalige Linksaktivist.

«In dieser Stadt knüpfte ich die Kontakte, die mich 1974 dazu führten, ein Netz von Zufluchtsorten für Kameraden aufzubauen, die auf der Flucht vor der italienischen Polizei waren. Als die Situation auch für mich gefährlich wurde, zog ich für vier Jahre nach Paris. Und als ich in die Schweiz zurückkehrte, wurde ich verhaftet.» Ähnlich erging es auch anderen ehemaligen Mitgliedern derselben Tessiner Bewegung.

Der Griff zur Waffe

In jenen Jahren sei «alles sehr schnell» gegangen, und die Protagonisten dieser Ereignisse seien oft von den Ereignissen überrollt worden. Zudem hätten die ersten Kooperationen mit wichtigen Vertretern der italienischen ausserparlamentarischen Linken begonnen, als man noch nicht von einem bewaffneten Kampf habe sprechen können.

«Am Tag nach dem Tod von Giangiacomo FeltrinelliExterner Link [siehe Kästchen] musste ich einen Mailänder Begleiter verstecken, der an der Aktion beteiligt gewesen war», erinnert sich A.A.

Giangiacomo Feltrinelli war Spross einer der reichsten Familien Italiens. In jungen Jahren beteiligte er sich am Widerstand. Später gründete er ein erfolgreiches Verlagshaus.

1964 ging er nach Kuba, wo er die Revolutionsführer traf und ein persönlicher Freund von Fidel Castro wurde. Drei Jahre später wurde er unter Mitwirkung der CIA in Bolivien verhaftet, wo Ernesto Che Guevara den Guerillakrieg wiederaufgenommen hatte.

Dank seiner Kontakte gelangte Feltrinelli in Besitz des symbolhaften Fotos von Che Guevara, das Alberto Korda im März 1960 aufgenommen hatte.

Nach dem rechtsterroristischen Bombenanschlag auf der Mailänder Piazza Fontana 1969 gründete er die GAP (Gruppo d’Azione Partigiana), eine der ersten bewaffneten linken Gruppen.

Zudem finanzierte er andere ausserparlamentarische Organisationen, darunter auch die im Entstehen begriffenen Roten Brigaden.

Er starb am 14. März 1972, als eine Bombe, die er an einem Hochspannungsmast in Segrate bei Mailand platzierte, zu früh explodierte.

«Unsere wichtigen Kontakte hatten wir mit der Autonomia Operaia. Wir hatten weder eine politische Verbindung zu den Roten Brigaden, noch teilten wir deren Theorien. Gelegentlich aber traten wir in Kontakt, um Exponenten einen Fluchtweg aus Italien zu ermöglichen.»

Die erste Hälfte der 1970er-Jahre sei eine besondere Zeit gewesen. «In Italien sympathisierte – im Gegensatz zu Deutschland mit der RAF – ein wichtiger Teil der Gesellschaft und der Medien mit den symbolischen Aktionen der Roten Brigaden. Zumindest bis zur Entführung des Staatsanwalts Mario Sossi 1974 in Genua», betont A.A.

«Als dann der eigentliche bewaffnete Kampf begann, die Beinschüsse, die Journalistenmorde, verloren die Roten Brigaden die Akzeptanz. Auch wir mussten uns eines Besseren besinnen und die Kontakte abbrechen.»

«Wir verurteilten den politischen Mord»

Dazu gibt A.A. weitere Details aus der Zusammenarbeit mit dem roten Extremismus preis: «Mit vier weiteren Kameraden habe ich geholfen, Waffen zu stehlen und zu verstecken. Doch dann hörten wir damit auf, weil wir die Ziele nicht mehr verstanden.»

Weiter halfen sie in der Organisation «Soccorso rosso antifascista» (Rote antifaschistische Hilfe) mit, «mit der wir eine Solidaritätsaktion mit den Opfern staatlicher Repression durchführten. Wir bezeichneten uns als aussenstehend, [denn] der politische Mord war nicht Teil unserer Denkweise».

Angesichts der faschistischen Bomben und der Strategie der Arbeitgeber, die Arbeiterkämpfe ins Leere laufen zu lassen, «hielten wir es für notwendig, stark Gegensteuer zu geben. Zu einem bestimmten Zeitpunkt akzeptierten wir sogar die Vorstellung, dass in Italien der Aufstand der Arbeiter möglich sein könnte. Aber auf Journalisten schiessen und Staatsanwälte töten, das lehnten wir ab», so A.A.

Grenzen und Fehler dieser Erfahrung

An diesem Punkt stellt sich die Frage nach der Bilanz dieser Erfahrungen. Denn diese hatten für einige der Protagonisten auch ein gerichtliches Nachspiel. «Was ich jetzt nicht tun will, ist eine Gruppe idealisieren, von der ich von heute aus gesehen vor allem ihre Grenzen sehe», sagt A.A.

«Andererseits will ich auch nicht in eine Art Revisionismus oder Reue kippen. Ich bin froh, im Alter zwischen 20 und 30 Jahren diese Erfahrung gemacht zu haben. Wie so oft lernt man mehr aus Fehlern als aus Erfolgen.»

«Wir bezeichneten uns als aussenstehend, [denn] der politische Mord war nicht Teil unserer Denkweise.»

Sicherlich kann man 40 Jahre später zu Recht festhalten, dass die damaligen Protagonisten sich der Naivität schuldig oder offensichtliche Analysefehler gemacht haben. «Klar, dass Lotta di Classe von heute aus betrachtet als naive Gruppierung erscheint», so A.A.

«Aber die konkreten Analysen über die Tessiner Wirtschaft und Gesellschaft von damals waren nicht so fehl am Platz. Vor allem, wenn man bedenkt, welche konzeptionellen Werkzeuge damals zur Verfügung standen. Wenn man stattdessen nur auf die Beziehungen zum bewaffneten Kampf anspielt, hat man vielleicht Recht.»

Doch A.A. möchte auch darauf hinweisen, «dass Lotta di Classe 1972 aufgelöst wurde – lange bevor in Italien die bleiernen Jahre ausbrachen. Die Verbindung zu den italienischen Gruppen, die in irgendeiner Weise am bewaffneten Kampf beteiligt waren, war auf sehr wenige Aussteiger von Lotta di Classe beschränkt. Anders gesagt: Als ich mit meinen italienischen Kameraden für die bekannten Ereignisse in Kontakt stand, gab es Lotta di Classe bereits nicht mehr».

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft