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Die Entwicklungshilfe lässt Haiti zurück, aber Schweizer NGOs bleiben

zwei mädchen laufen von protesten weg
Die Strassen der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince waren in den letzten Monaten Schauplatz von Massenprotesten und Zusammenstössen zwischen bewaffneten Banden. Die Banden kontrollieren inzwischen mehr als die Hälfte der Stadt, und die Zahl der Morde und Entführungen nimmt zu. Copyright 2023 The Associated Press. All Rights Reserved

Die Schweiz gibt ihre bilaterale Entwicklungshilfe in Haiti auf. Doch das hält Schweizer NGOs nicht davon ab, ihre Arbeit fortzusetzen. Währenddessen steuert die karibische Nation auf den Zusammenbruch zu.

Der Beginn des laufenden Schuljahres in Haiti war anders als alle anderen, die das Land in seiner jüngsten Geschichte erlebt hat. Nach mehrwöchigen Verzögerungen aufgrund von Bandengewalt öffneten die Schulen im vergangenen Oktober endlich ihre Tore – nur um von bewaffneten Gruppen geplündert zu werden. Dies war der Fall bei einer Oberschule in Pétion-Ville, einem Vorort der Hauptstadt Port-au-Prince.

«Die Kinder wurden belagert», erinnert sich Guerty Aimé, Haiti-Koordinatorin der Schweizer NGO Terre des Hommes. Sie sagt, dass der Unterricht nur sporadisch stattfinden konnte, aber die Eltern ihre Kinder trotz der Risiken weiter hinschickten. Denn: «Entweder du gehst zur Schule oder du schliesst dich einer Bande an», sagt Aimé. Kriminelle Gruppen rekrutieren aktiv Minderjährige.

Da Banden mehr als die Hälfte der Hauptstadt unter ihre Kontrolle gebrachtExterner Link haben und auch in andere Teile der Insel vordringen, ist die bewaffnete Gewalt gegen Schulen im letzten Jahr um das NeunfacheExterner Link gestiegen, berichten die Vereinten Nationen. Ganze Stadtteile leben in Angst, die Zahl der Morde und Entführungen nimmt zu. Der Ausbruch von Cholera im vergangenen Oktober und die weit verbreiteten sozialen Unruhen, die durch die Unzufriedenheit mit der Regierung angefacht wurden, haben die Lage weiter verschlimmert. «Die Menschen verhandeln täglich ums Überleben», so Aimé.

In dieser prekären Situation treibt die Schweiz – als sechstgrösste staatliche Geberin des Landes – ihren Rückzug aus Haiti voran. Dies, nachdem sie 2020 beschlossen hat, die gesamte bilaterale Entwicklungshilfe in Lateinamerika und der Karibik einzustellen. Aufgrund der Sicherheitsrisiken vor Ort beschleunigt sie ihren Rückzug sogar noch: Die Finanzierung wird Ende 2023 eingestellt, ein Jahr früher als erwartet.

«Erfolge bei der Armutsbekämpfung zunichte gemacht»

«Dies bedeutet eine erhebliche Kürzung der finanziellen Mittel, die die Schweiz für die Entwicklung Haitis zur Verfügung stellt», sagt Elisa Raggi, Sprecherin des Schweizer Aussendepartements. 2020 hatte die Regierung vorgeschlagen, die Entwicklungshilfe effizienter zu nutzen, indem sie sich auf weniger Regionen – Subsahara-Afrika, Asien, Nordafrika und Naher Osten sowie Osteuropa – konzentriert. Kritiker:innen, darunter der UNO-Sonderberichterstatter zum Recht auf Entwicklung, äusserten ihre BedenkenExterner Link, dass sich die Schweiz bei der Finanzierungsentscheidung an ihre eigenen langfristigen Interessen orientiert und nicht an der Armutsbekämpfung.

In Haiti geht es um Dutzende von bilateralen Projekten in Bereichen wie landwirtschaftliche Produktivität, Wirtschaftsreformen und gute Regierungsführung, welche die Schweiz 2023 mit 10 Millionen Schweizer Franken finanziert.

Die Schweiz ist nach den USA, Kanada, Frankreich, Spanien und der EU die sechstgrösste staatliche Geberin für Haiti. Im Jahr 2021 beschloss Frankreich, seine Entwicklungshilfe auf 0,55% seines BIP zu erhöhen und diese unter anderem auf seine ehemalige Kolonie Haiti zu konzentrieren.

Insgesamt erhält Haiti jährlich rund 1 Milliarde Franken an ausländischer Hilfe, doch die Ergebnisse sind nach Angaben der Schweizer Entwicklungsagentur durchzogen.

Die Lage auf der karibischen Insel ist seit dem Erdbeben von 2010, das grosse Teile des Landes verwüstete, instabil, und hat sich seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 weiter verschlechtert. Die Zahl der bewaffneten Gruppen wird auf etwa 200 geschätzt, sie finanzieren sich unter anderem durch Einschüchterung, Erpressung, Drogenhandel und Geldwäsche.

Sources: DEZA, Foreign Policy

Ab 2024 wird die Schweiz ihr bilaterales Engagement von der Entwicklungshilfe auf die humanitäre Hilfe verlagern, um unmittelbare Bedürfnisse wie Nahrungsmittel und Wasser zu decken und die Katastrophenhilfe zu verbessern. Die Botschaft in Port-au-Prince ist bereits durch ein Büro für humanitäre Hilfe ersetzt worden. Diese Hilfe wird tiefer als das Entwicklungsbudget ausfallen: Die humanitären Mittel für 2024 belaufen sich auf 5,9 Millionen Franken, etwas mehr als der Hälfte des Entwicklungsbudgets für 2023.

Der Rückzug der Schweiz erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem sich die haitianische Wirtschaft in einer desolaten Lage befindet. Sie ist drei Jahre in Folge geschrumpft und Hilfsorganisationen warnen, dass Haiti – ohnehin das ärmste Land der westlichen Hemisphäre – am Rande des Zusammenbruchs steht. Mit der gegenwärtigen Krise, so die WeltbankExterner Link, «sind die bisherigen Erfolge bei der Armutsbekämpfung zunichte gemacht worden». Selbst die Schweizer Entwicklungsagentur Deza räumte in einem BerichtExterner Link ein, dass die Ergebnisse der internationalen Entwicklungshilfe, die etwa 10% des haitianischen BIP beträgt, «schwer zu erkennen sind».

ein mann geht durch Port-au-Prince
In Haiti, dem ärmsten Land der westlichen Hemisphäre, sind langfristige Entwicklungsmassnahmen wie Einkommensschaffung und Berufsausbildung ebenso wichtig wie humanitäre Hilfe, sagt Conor Walsh, Haiti-Länderdirektor bei Caritas Schweiz. Keystone / Johnson Sabin

Die Schweiz betont jedoch, dass sie das haitianische Volk nicht im Stich lässt. Die Deza hat sich für einen schrittweisen, «verantwortungsvollen» Ausstieg ausgesprochen. Sie wird die Entwicklung Haitis weiterhin über multilaterale Kanäle finanzieren, so Raggi, ohne jedoch einen Betrag zu nennen. Die Schweiz wird auch weiterhin im Verwaltungsrat der Interamerikanischen Entwicklungsbank vertreten sein, der wichtigsten multilateralen Finanzierungsquelle für die schwächsten Länder der Region, so Raggi.

Lokale Kapazitäten für den Wiederaufbau stärken

Für Caritas Schweiz, die mehrere von der Schweiz finanzierte Projekte in Haiti leitet, ist der neue Fokus – angesichts der zahlreichen Krisen, mit denen die Menschen in Haiti konfrontiert sind – nicht unbedingt falsch gesetzt.

«Die Aufrechterhaltung einer humanitären Präsenz ist absolut wichtig und willkommen», sagt Conor Walsh, Haiti-Länderdirektor der NGO. Die Caritas, die sowohl humanitäre Hilfe als auch Entwicklungsarbeit leistet, ist jedoch der Ansicht, dass das eine das andere nach sich ziehen sollte. «Die humanitäre Arbeit sollte immer eine längerfristige Perspektive haben. Um die Gemeinschaft zu befähigen, sich zu erholen, wieder aufzubauen und letztlich ihr wirtschaftliches und soziales Wohlergehen wiederzuerlangen», sagt Walsh.

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Eines der von Caritas geleiteten Projekte bietet Berufsausbildung und die Stärkung von Qualitätsstandards, hauptsächlich in der Bauindustrie. Da die Schweizer Finanzierung ausläuft, wurde das Programm so umgestaltet, dass es in diesem Jahr nach etwas mehr als vier Jahren endet, anstatt wie ursprünglich geplant zwei weitere Phasen zu umfassen.

lachende schulkinder in Haiti
Angesichts der zunehmenden Bandenkriminalität an Schulen setzen sich die Schweizer Nichtregierungsorganisation Terre des Hommes und ihre lokalen Partner dafür ein, dass die Schulen offen und für Kinder wie diese Schülerinnen und Schüler in Léogâne, westlich von Port-au-Prince, sicher bleiben. Terre des Hommes Suisse

Die NGO ist nun auf der Suche nach neuen Geldgeber:innen, um diese nächsten Phasen sowie ein weiteres Projekt zu finanzieren, das den Bäuerinnen und Bauern im Nordwesten des Landes hilft, die landwirtschaftliche Produktivität zu steigern und nachhaltigere Produkte zu produzieren. Die Deza hat der NGO angeboten, sie bei ihrer Suche zu unterstützen, indem sie den Zugang zu potenziellen Geldgeber:innen erleichtert – so wie sie es laut Raggi auch bei anderen Projekten tut, die sie bisher finanziert hat.

Ein schwieriges Umfeld

Für Terre des Hommes, das sich für den Zugang zu Bildung in Haiti einsetzt, hat das Ende des Schweizer Engagements keine Auswirkungen auf den laufenden Betrieb, da die Organisation von Bern Gelder für ihr gesamtes weltweites Programmpaket erhält und nicht für einzelne Projekte oder Länder, sagt ihr Generalsekretär Christophe Roduit.

«Wir erhalten immer noch [finanzielle] Unterstützung für unsere Programme. Aber die Bedürfnisse haben sich verändert und multipliziert», erklärt er.

Die NGO bleibt bei diesen Herausforderungen standhaft. Sie verlässt sich jetzt stärker auf ihre lokalen Partner:innen, um die meisten der 17 Schulen, die sie mitbetreibt, offen zu halten. Vorrangig geht es darum, die Kinder auf dem Weg zur Schule und in der Schule zu schützen.

Auch die Caritas ist entschlossen zu bleiben, obwohl ihre Arbeit nicht nur durch den Rückzug der Schweiz, sondern auch durch die anhaltende Gewalt beeinträchtigt wird. Walsh leitet die Einsätze nun von der benachbarten Dominikanischen Republik aus. Die 35 einheimischen Mitarbeiter der Organisation gehen nur noch ins Büro in Port-au-Prince, wenn es die Sicherheitslage erlaubt, und arbeiten ansonsten von zu Hause aus – wenn Internet und Strom verfügbar sind.

Die Caritas-Partner:innen vor Ort wurden im vergangenen September von anhaltenden Plünderungen heimgesucht. «Ihnen wurde alles, wirklich alles, aus ihren Büros gestohlen und sie mussten neu anfangen», so Walsh.

Bauer bei der Arbeit
In Saint Louis du Nord helfen die Caritas und ihre lokalen Partner den Landwirten bei der Steigerung ihrer landwirtschaftlichen Produktion. Hier fügt ein Landwirt Ernterückstände einem Graben mit Terra Preta (einem dunklen, fruchtbaren Boden) zu, wo sie zu nährstoffreichem Kompost verarbeitet werden. Evale Guetchine

Trotz dieser Schwierigkeiten wurden im Nordwesten projektierte Strassen gebaut und Ernten eingefahren – hauptsächlich, so Walsh, dank der Widerstandsfähigkeit der Landwirt:innen und der örtlichen Mitarbeitenden. Aber das Projekt liegt hinter dem Zeitplan zurück: Das Team war gezwungen Abstriche zu machen, weil Materialien nicht rechtzeitig beschafft werden konnten, sagt Walsh. Zudem sind Reisen ausserhalb der Hauptstadt wegen sozialer Unruhen und bewaffneter Kontrollpunkte, die von Banden errichtet wurden, nur noch auf dem Luftweg möglich.

Zu verwundbar ohne Unterstützung

Angesichts all dieser Hindernisse und des wachsenden Bedarfs haben die UN und ihre Partner:innen ihren Spendenaufruf für Haiti im Vergleich zu 2022 auf 715 Millionen Dollar verdoppelt. Und rufen die internationale Gemeinschaft auf, die Insel nicht im Stich zu lassen.

«Wir sehen kein Licht am Ende des Tunnels, das kann eine gewisse [Geber-]Müdigkeit hervorrufen und die Grosszügigkeit bremsen», sagt Roduit. «Das ist völlig verständlich. Aber gerade, weil wir uns vielleicht im dunkelsten Abschnitt dieses Tunnels befinden, müssen wir handeln.»

Auch wenn viele der Probleme des Landes schwer zu lösen sind, ist laut Walsh eines klar: «Haiti ist einfach zu verwundbar, um auf sich allein gestellt zu sein.»

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

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