«Die europäische Asylpolitik ist streng und unwirksam»
"Die EU müsste ihre Asylpolitik langfristig zentralisieren und sich als sofortiges Ziel die Solidarität zwischen den Staaten und den Schutz der Migranten stellen:" Vor dem EU-Gipfel schlägt Professor Francesco Maiani eine radikale Reform des Dublin-Systems vor. In Brüssel allerdings scheint es keinen Spielraum für einen Wechsel zu geben.
Die Staats- und Regierungschefs der EU umreissen an ihrem Treffen vom 26. und 27. Juni in Brüssel in grossen Zügen die gemeinsame Politik der nächsten fünf Jahre. Italien, das am 1. Juli für ein halbes Jahr die Präsidentschaft des EU-Rats übernimmt, setzt die Migrationsfrage zuoberst auf seine Prioritätenliste. Seit Anfang Jahr landeten rund 50’000 Flüchtlinge an den italienischen Küsten, das sind mehr als im ganzen 2013. «Das Mittelmeer ist nicht nur eine italienische, sondern eine europäische Grenze», hatte Innenminister Angelino Alfano mehrmals betont.
swissinfo.ch hat über die Asylproblematik mit Francesco Maiani diskutiert. Er ist Professor am Hochschulinstitut für Öffentliche Verwaltung (IDHEAP) in Lausanne und Mitglied von Odysseus, einem Juristennetzwerk für Migration und Asyl.
swissinfo.ch: Nach dem Untergang eines Schiffes am 3. Oktober 2013 in Lampedusa, bei dem 360 Menschen ihr Leben verloren, und infolge der grossen Zahl von Flüchtlingen, die in den letzten Monaten registriert wurden, hat Italien um mehr Solidarität in Europa gebeten. Eine legitime Forderung?
Francesco Maiani: Man muss zuerst präzisieren, dass Italien nicht von Migranten überschwemmt wird, wie man das oft hört. Bezüglich seiner Grösse, seiner Bevölkerungszahl und dem Bruttoinlandprodukt, beherbergt Italien weniger als andere Staaten. Allerdings ist es ein besonders exponiertes Land und hat alle Gründe, die EU um Solidarität zu bitten.
51 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge weltweit
Erstmals seit dem Ende des II. Weltkriegs hat 2013 die Anzahl Flüchtlinge, Asylbewerber und intern Vertriebener die 50-Millionen-Grenze überschritten. Dies zeigt der jüngste Bericht des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) vom 20. Juni 2014.
86% der Flüchtlinge leben in Entwicklungsländern. Die meisten (1,6 Millionen Personen) in Pakistan, gefolgt von Iran, Libanon, Jordanien und der Türkei.
Die Hälfte aller Flüchtlinge ist unter 18 Jahre alt. Unter Asylsuchenden sind über 25’000 unbegleitete Kinder.
2013 wurden die meisten Asylgesuche in Deutschland gestellt, das einen Anstieg um 70% auf 109’600 Gesuche verzeichnete, gefolgt von den USA (84’400) und Südafrika (70’000).
Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Nach dem Drama von Lampedusa haben alle «nie wieder» geschworen. Seither hat niemand etwas Entscheidendes getan, ausser Italien. Im vergangenen Oktober hat die Regierung die Operation Mare Nostrum lanciert, welche die Rettung zehntausender Leben aus dem Meer ermöglichte.
Ohne direkte Beteiligung der EU wird Mare Nostrum allerdings wohl ein kurzes Leben haben. Heute gibt Italien neun Millionen Euro pro Monat für diese Operation aus. Und gemäss der Dublin-RegelungExterner Link müsste das Land jeden Migranten aufnehmen, den es rettet und der um Asyl ersucht. Wie wenn Europa Italien sagen würde: «Nie mehr Tote im Mittelmeer. Bitte rette sie und bezahle die Operation. Wenn jemand dann deine Grenze überquert, bitte nimm ihn zurück.»
swissinfo.ch: Gleichzeitig werfen verschiedene Länder Italien vor, es registriere nicht alle ankommenden Migranten, damit es sich nicht um sie kümmern müsse…
F.M.: Um dies zu verifizieren, haben diese Staaten und die Kommission alle Mittel zur Hand, auch einen Rekurs vor dem Gerichtshof.
Wie bereits gesagt, sollte sich dies bewahrheiten, würde Italien seine Pflichten verletzen. Ich rechtfertige das nicht, aber es ist rational: die Struktur dieses europäischen Asylsystems spornt geradezu zu solchem Verhalten an – oder noch schlimmer – zum Sterbenlassen von Migranten im Meer, wie das auch getan wurde. Wenn es Europa mit seinem «Nie wieder» ernst ist, dann muss es seine Migrationspolitik überdenken.
swissinfo.ch: Welche Massnahmen müssen konkret ergriffen werden?
F.M.: Die Bergungsoperationen müssen gemeinsam vorangetrieben werden, und die geretteten Asylsuchenden müssen unter den europäischen Staaten angemessen aufgeteilt werden.
Wenn es echte Solidarität unter den Staaten und Gerechtigkeit für die Schutzsuchenden geben soll, dann geht das längerfristig nur mit einer Zentralisierung. Unter Einhaltung des Grundsatzes der Subsidiarität muss die EU mit der Verwaltung der Grenzen und der Abwicklung der Asylverfahren betraut werden. Dies bedingt allerdings eine Änderung der Verträge und vor allem der Mentalität.
swissinfo.ch: Das Phänomen der so genannten «Asyl-Vagabunden» wird auch von einer Migrationspolitik wechselnder Konstellationen genährt. Heutzutage sind die Aufnahmebedingungen in den einzelnen Ländern völlig unterschiedlich, ebenso die Aufnahmequote von Flüchtlingen, die zwischen 1 und 80 Prozent liegt. Wieso hat Europa nie versucht, seine Verfahren zu harmonisieren?
F.M.: Zuallererst muss man einmal über den Begriff «Asyl-Vagabund» nachdenken. Es hat sich eine öffentliche Debatte darüber ergeben, ob ein Migrant einen Missbrauch begeht, wenn er sein Zielland wählen will. Aber wenn man Ihnen sagen würde: «Hier hast Du 80%, dass Du Asyl sowie gute sozio-ökonomische Unterstützung für Deine Kinder erhältst, dort aber beträgt die Chance nur 1% und die Bedingungen sind schlecht.» Was würden Sie tun? Ich habe den Eindruck, dass häufig vergessen geht, dass Flüchtlinge auch Menschen sind wie wir.
Wie gesagt: die Aufnahmebedingungen und Asylverfahren sind von Land zu Land verschieden, aber nicht weil Europa nichts gemacht hat. Im Gegenteil, es hat viel investiert, um die Gesetze zu harmonisieren. Es werden aber Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vergehen, bis auch die Gepflogenheiten harmonisiert sind.
Es ist nicht das, was mich schockiert. Mich schockiert vor allem, dass trotz dieser Ungleichheiten weiterhin rigide und automatisch das Dublin-System in angewendet wird.
Dublin geht vom Prinzip aus, dass alle Länder gleichwertig sind, was jedoch noch nicht der Fall ist. In Italien zum Beispiel sind die Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge prekär und die Verlegungen sollten behutsam durchgeführt werden. Aber die Behörden haben, auch gegenüber dramatischen Fällen oder eklatanten Ungerechtigkeiten, wenig Skrupel.
swissinfo.ch: Besteht aber nicht das Risiko, dass gewisse Länder, die einen besseren Schutz bieten, mit Gesuchen überhäuft werden, wenn man den Asylsuchenden absolute Freiheit lässt?
F.M.: Erstens: Können wir sicher sein, dass die Praktiken bezüglich Asyl oder Wirtschaftsperspektiven ausschlaggebend sind? Im Weiteren zeigen verschiedene Studien, dass das Bestehen eines familiären oder sozialen Netzes mehr zählt.
Zweitens: Wenn wir die gesamten Zahlen anschauen, wäre die Verteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedstaaten praktisch gleich wie heute, auch ohne Dublin. In Europa ist in den meisten Fällen jener Staat, der ein Asylgesuch prüft, identisch mit jenem, in dem es erstmals vorgelegt wurde – so, als würden diese berühmten Dublin-Kriterien gar nicht existieren. Klar, in einer rein nationalen Wahrnehmung kann das anders sein. Dank Dublin schickt die Schweiz einen grossen Teil ihrer Asylsuchenden nach Italien zurück.
swissinfo.ch: Aber auch das Verteilsystem scheint Fehler aufzuweisen. Im letzten Jahr konnte die Schweiz weniger als die Hälfte aller Asylbewerber in den zuständigen europäischen Staat zurückschicken.
F.M.: Das ist nicht erstaunlich. In ganz Europa wurden die «Dublin»-Rückführungen in Realität nur in wenigen Fällen ausgeführt. Ein System, das systematisch gegen die Wünsche der Migranten läuft, kann nur mit systematischen Inhaftierung und Zwangsrückschaffungen funktionieren. Das heisst: wenig und schlecht. Zudem sind Inhaftierungen kostenintensiv. Es wäre nützlich zu wissen, wie viel pro Jahr auf europäischem Niveau ausgegeben wird. Es ist ein wichtiges Element, das in der öffentlichen Debatte fehlt.
swissinfo.ch: Trotz der massiven Kritik gegenüber der europäischen Migrationspolitik, scheint eine radikale Änderung nicht an der Tagesordnung zu sein. Was erwarten Sie vom bevorstehenden EU-Gipfel?
F.M.: Ich erwarte keine grossen Änderungen. Bis jetzt haben die Mitgliedstaaten nicht demonstriert, dass sie auch nur einen Millimeter nachgeben würden. Die nationalen Interessen haben mehr Gewicht als Solidarität und der Schutz der Flüchtlinge. Einzig in der Frage einer gemeinsamen Überwachung des Mittelmeers scheint es einen gewissen Handlungsspielraum zu geben.
Wieder Anstieg der Asylgesuche in der Schweiz
2013 wurden in der Schweiz 21’465 Asylanträge eingereicht, 25% weniger als 2012. Dies trotz der Tatsache, dass sich die Anzahl der Asylanträge in Europa um 27,4% auf rund 447’000 erhöhte.
Laut dem Bundesamt für Migration basiert dieser Rückgang von Anfragen auf beschleunigten Verfahren und der Tatsache, dass die Schweiz für bestimmte Kategorien von Antragstellern weniger attraktiv wurde.
Mit 2,7 Anfragen auf 1000 Einwohner bleibt die Schweiz aber eines der am meisten vom Asyldruck belasteten Länder in Europa, hinter Malta und Schweden (6 auf 1000).
Nach dem starken Anstieg von Migranten in Italien hat die Anzahl der Asylgesuche im Mai 2014 auch in der Schweiz wieder zugenommen (+14% auf 1680). Das Registrierungs-Zentrum in Chiasso bezeichnet sich als «vollkommen ausgebucht». Die meisten Menschen kommen aus Eritrea und Syrien.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gaby Ochsenbein)
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