Die Finanzkrise setzt auch den Rentnern zu
Die berufliche Vorsorge (BVG), die 2. Säule im schweizerischen Rentensystem, wird durch die mageren Kapitalerträge geschwächt. Um den Pensionskassen Luft zu verschaffen, brütet die Regierung über ein Projekt, das die Renten tangieren könnte.
Im März 2010 hatte das Schweizer Stimmvolk eine Senkung des so genannten Umwandlungssatzes der Renten von 6,8 auf 6,4% mit 72 Prozent der Stimmen abgeschmettert.
Wäre die Revision, die von einer bürgerlichen Mehrheit im Parlament unterstützt, von der Linken und den Gewerkschaften aber bekämpft wurde, angenommen worden, hätte ein Rentner am Ende des Berufslebens auf einem angehäuften Kapital von 100’000 Franken eine Rente von jährlich 6400 statt wie bisher 6800 Franken erhalten.
Eine deutliche Mehrheit der Stimmbürger wollte aber nicht, dass dieser Pfeiler der Altersvorsorge angetastet werde. Weniger als zwei Jahre nach dem Plebiszit will die Regierung erneut an diesem Sozialwerk rütteln. In einem Interview gegenüber der Zeitschrift Sonntag sagte Colette Nova, Vize-Direktorin im Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), dass der Umwandlungssatz der 2. Säule rasch gesenkt werden müsse, ohne zu präzisieren um wie viel.
Um die Senkung zu kompensieren und das Niveau der Renten zu sichern, prüft das BSV verschiedene Varianten, unter anderem eine Erhöhung der Beitragszahlungen für Lohnbezüger und eine Senkung des so genannten Koordinationsabzugs, will heissen: gleicher Lohnprozentsatz, aber angewandt auf einem grösseren Teil des Lohns.
Die Vorschläge der Regierung werden in einem Bericht erscheinen, der bis Ende Jahr dem Parlament vorgelegt werden muss.
Börse auf Halbmast
Der Reformbedarf beruht auf den Schwierigkeiten gewisser Pensionskassen in Folge sinkender Kapitalerträge, die ihrerseits die Konsequenz der globalen Wirtschaftsprobleme sind. Laut Colette Nova hat eine Mehrheit der Kassen keine Reserven mehr oder verzeichnet bereits eine Kapitalunterdeckung.
«Der dritte Beitragszahler, also die Börse, erfüllt ihre Mission offensichtlich nicht», sagt Guy Parmelin, Waadtländer Nationalrat der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP).
«Die Pensionskassen leiden direkt unter der Börsenkrise», sagt auch Stéphane Rossini, Walliser Nationalrat der Sozialistischen Partei der Schweiz (SP). «Man hatte lange Zeit geglaubt, dass die AHV, ein auf Umverteilung basierendes System, verletzlich sei wegen der höheren Lebenserwartung der Versicherten. Heute stellt man fest, dass es der AHV gut geht, aber die berufliche Vorsorge verletzlich ist, die auf der Kapitalisierung beruht.»
In den letzten 10 Jahren war die 2. Säule drei Mal einer grossen Börsenkrise ausgesetzt, erinnert sich Rossini. Die 1985 ins Leben gerufene Institution hat bis 2000 eine Glanzzeit erlebt. Die Erträge erreichten manchmal 10% pro Jahr, womit nicht nur die Inflation kompensiert, sondern auch die Betriebsmittel der Kassen erhöht werden konnten. Das ist heute nicht mehr der Fall.
Implosionsgefahr
«Wenn man den Kurs nicht ändert, implodiert das System», wettert Guy Parmelin, der für eine rasche Senkung des Umwandlungssatzes plädiert. Aber ist so etwas sinnvoll, knapp zwei Jahre nach einer deutlichen Abfuhr an der Urne? «Das politische System der Schweiz erlaubt es, mehrmals auf eine Sache zurückzukommen», sagt Parmelin. Im vorliegenden Fall müsse man halt Begleitmassnahmen ins Auge fassen.
Stéphane Rossini ist nicht aus Prinzip gegen eine Senkung des Umwandlungssatzes. «Aber man muss unbedingt verhindern, dass es eine Rentenkürzung nach sich zieht, vor allem bei jenen Versichertengruppen, die bereits finanzielle Schwierigkeiten haben. Dies umso mehr, als dass die Regierung anfangs Monat beschlossen hatte, den Mindestzinssatz, der auf dem Kapital der beruflichen Vorsorge ausbezahlt werden muss, von 2 auf 1,5% zu senken, auf das niedrigste Niveau aller Zeiten.
Guy Parmelin räumt ein, dass AHV und 2. Säule es demnächst nicht mehr erlaubten, eine durch die Verfassung garantierte Minimalrente sicherzustellen, nämlich 60% des Betrags des letzten Lohns.
«2012 werden wir das 40-jährige Bestehen des Drei-Säulen-Prinzips feiern. Diesem ist es zu verdanken, dass wir Armut unter der älteren Bevölkerung bekämpfen konnten. Dieser Fortschritt darf durch den Börsenmarkt nicht gefährdet werden.»
Mehr AHV?
Weil die Kapitalerträge schrumpfen, plädiert der Sozialdemokrat für eine Übertragung des BVG-Beitrags in die AHV, die eine Erhöhung der AHV-Renten ermöglichen würde, ohne dass die Lohnabzüge hinaufgesetzt werden müssten.
«Da sei er entschieden dagegen», kontert Guy Parmelin. «Mit einer Erhöhung der AHV-Beitragszahlungen würde man erneut die Unternehmungen belasten, die schon unter der Frankenstärke zu leiden haben».
Die Renten werden eines der grossen Themen der nächsten Legislaturperiode sein, weil auch die Regierung eine umfassende Reform der AHV prüft, und die Kluft zwischen der Linken und Rechten sich nicht schliessen dürfte.
In einem Punkt sind sich die beiden Parlamentarier einig: Das Rentensystem der Schweiz mit ihrem Drei-Säulen-Prinzip hat sich bisher bewährt, und es wird – trotz höheren Lebenserwartungen und trotz Zuckungen auf den globalen Finanzmärkten – keine revolutionären Änderungen erfahren.
Das schweizerische Rentensystem ist auf drei Säulen aufgebaut.
Die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) bildet die erste Säule. Sie ist eine obligatorische Versicherung für alle und soll die grundlegenden Lebensbedürfnisse im Alter decken.
Finanziert wird sie durch Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Beiträge (4,2% des Gehalts) und durch öffentliche Mittel. Es ist ein Umlageverfahren, das heisst, alle Versicherten finanzieren einen Fond, dessen Mittel dann verteilt werden.
Die berufliche Vorsorge bildet die zweite Säule. Es handelt sich um eine obligatorische Versicherung für Angestellte. Sie wird durch Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern (7 bis 18% des Gehalts in Abhängigkeit vom Alter) finanziert.
Die zweite Säule ist als Kapitaldeckungs-Verfahren konstruiert. So äuffnet der Versicherte ein obligatorisches Vermögen an, das ihm bei Erreichung des Rentenalters als Summe oder Rente ausbezahlt wird.
Die individuelle Vorsorge, eine Form von Bank- oder Versicherungssparen, das steuerlich abziehbar ist, bildet die dritte Säule. Der angesparte Betrag wird auf den Beginn des Rentenalters ausbezahlt.
Mit der 1. und 2. Säule zusammen sollen rund 60% des letzten Salärs abgedeckt sein. Die dritte Säule dient zur Ergänzung und zur Erhaltung des Lebensstandards
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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