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Die grosse Kluft zwischen Gesellschaft und Moral

2011 hat der Chef von Novartis, Joseph Jimenez, 266 Mal mehr verdient als sein Angestellter mit dem niedrigsten Lohn. Reuters

Seit Mitte der 1990er-Jahre hat sich die Lohnschere in der Schweiz immer weiter geöffnet. Zwei Volksinitiativen versuchen den Missstand zu bekämpfen. Ist dies der richtige Weg im Kampf gegen unverhältnismässige und für gerechte Löhne?

Der am schlechtesten bezahlte Arbeitnehmer beim Pharmakonzern Novartis müsste 266 Jahre arbeiten, um das Salär seines Direktors, Joseph Jimenez,  zu erreichen. Dieser konnte 2011 15,7 Millionen Franken einstreichen.

Laut einer Untersuchung der Gewerkschaft  Travail.Suisse vom Juni 2012 ist dies das eklatanteste Beispiel eines Lohngefälles.

An dritter Stelle der Rangliste, mit einem Verhältnis von  1 zu 229, steht Daniel Vasella, Verwaltungsratspräsident und  ehemaliger Konzernchef (2005 bis 2009) von  Novartis, mit Vergütungen von nahezu 40 Millionen Franken jährlich.

«Unanständig, übertrieben», empört sich ein grosser Teil der Öffentlichkeit.

2010, mitten in der Finanzkrise, wurde Vasella von Brady Dougan, dem CEO der Credit Suisse, noch entthront.  Die 90 Millionen Franken, die er jährlich verdiente, entsprechen dem 1812-Fachen des Salärs des am schlechtesten bezahlten Angestellten seiner Bank.

Auf die allgemeine Entrüstung folgten Reue-Bekenntnisse und die Androhung, den übertriebenen Boni einen Riegel zu schieben, jenen Dutzenden von Millionen Boni, welche die UBS-Manager angehäuft hatten und mit denen sie auf dem amerikanischen Markt riskante Geschäfte tätigten, welche die Schweiz an den Rand einer Katastrophe führten.

In den letzten zwei Jahren ist das Ausmass der Lohnunterschiede  in der Schweiz unwesentlich zurückgegangen. «Es trug aber kaum zur Entspannung der Situation bei», beklagt die Gewerkschaft UNIA, die 2011 ausgerechnet hat, dass ein «Topmanager» ungefähr 39 mal mehr verdiente als ein einfacher Angestellter, 2010 waren es noch 43 mal mehr.

Die Abnahme ist weitaus geringer als jene bei den Gewinnen der 41 wichtigsten an der Schweizer Börse kotierten Unternehmen. Die Gewinne sanken von 84 Milliarden auf 56 Milliarden, was einer Abnahme von 35% entspricht.

Die vom Unternehmer Thomas Minder lancierte Initiative «gegen die Abzockerei» verlangt einen Verfassungsartikel, der eine Reihe von Bestimmungen enthält, die das Recht der Aktionäre von börsenkotierten Schweizer Unternehmungen verstärkt.

Damit soll verhindert werden, dass Topmanager sich exorbitante Löhne bezahlen können, ohne  Bezugnahme auf die Resultate ihrer Firmen.

Der Verfassungstext überträgt der Generalversammlung die Kompetenz, jedes Jahr alle Mitglieder des Verwaltungsrats zu wählen.

Die Aktionäre  können die Höhe der Vergütungen des Verwaltungsrats, der Geschäftsleitung und des Beirats der Direktion bestimmen.

Die Organmitglieder erhalten keine Abgangs- oder andere Entschädigung, keine Vergütung im Voraus, keine Prämie für Firmenkäufe und –verkäufe.  Die Stimmabgabe durch Vertreter ist untersagt.

Das Volk kann am 3. März 2013 darüber abstimmen. Im Fall einer Ablehnung würde der indirekte Gegenvorschlag des Parlaments in Kraft treten.

Dieser verlangt eine Revision des Aktien- und Rechnungslegungsrechts und nimmt einen grossen Teil der in der Abzocker-Initiative geforderten Massnahmen auf, wenn auch in abgemilderter Form.

Die Wende beim Neoliberalismus

Etwas ist in Bewegung geraten, das ist unbestritten. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SBG) hat ausgerechnet, dass zwischen 1997 und  2008 die Anzahl Personen, die mehr als eine Million pro Jahr verdienten, von  510 auf 2824 gestiegen ist. Ist diese Entwicklung nun ein Skandal oder nicht?

«Es gibt keine wirtschaftliche Rechtfertigung für die exorbitanten Managerlöhne», betont Jean-Jacques Friboulet, Professor für Wirtschaftsethik an der Universität Freiburg. «Die neoliberalen Entwicklungen der 1990er-Jahre haben Grenzen gesprengt. Die moralischen, ethischen und religiösen Leitplanken protestantischer Prägung, die bis anhin der masslosen Bereicherung Grenzen setzten, wurden zerschlagen.»

Für Jean-Jacques Friboulet ist klar, dass sich die Wirtschaft nicht selbst regulieren kann. Er steht deshalb der «Abzockerinitiative», die im März 2013 zur Abstimmung kommt,  positiv gegenüber. Die Initiative verlangt nämlich, dass die Löhne der Direktion und des Verwaltungsrats einer Aktiengesellschaft der Generalversammlung zur Abstimmung vorgelegt werden.

«Schmähliche historische Niederlagen» 

«Es ist klar, dass in einer direkten Demokratie das Volk das Recht hat, sich zu solchen gesellschaftlichen Fragen zu äussern», sagt Cristina Gaggini, Direktorin Westschweiz der Arbeitgeberorganisation economiessuisse, die gegen die Initiative ist. Aber ausserhalb von Europa wird diese Debatte nicht verstanden. In den USA, China oder Indien spricht man stolz über seinen Lohn, der ein Symbol für den gesellschaftlichen Aufstieg darstellt».

Für Cristina Gaggini sind die Lohnunterschiede überhaupt kein Problem. «Das Phänomen geht zurück auf die Antike. Die Versuche, Diskrepanzen zu regulieren, endeten immer mit schmählichen historischen Niederlagen», warnt die Anhängerin der Marktwirtschaft.

Der Gewerkschafter und Soziologe Alessandro Pelizzari teilt diese Meinung nicht. In einem Punkt ist er aber mit der Vertreterin der Arbeitgeber einverstanden: Man kann nicht von einer formal missbräuchlichen oder unanständigen Entlöhnung sprechen, ebenso wenig von einer gerechten.

«Es ist alles eine Frage des Kräfteverhältnisses», präzisiert der Gewerkschafter. Dieses bestimmt einerseits die Aufteilung der Löhne zwischen Kapital und Arbeit, und andererseits die Aufteilung unter den Arbeitnehmern. «In den letzten 20 Jahren hat sich das Kräfteverhältnis ganz klar zu Gunsten des Kapitals verschoben.»

Am Ende der Wirtschaftswunderjahre 1945-1975 machten die Löhne rund 70% des BIP aus, heute seien es 60%, sagt Jean-Jacques Friboulet. «In jenen Jahren begannen die Topmanager, einen substanziellen Teil des Gewinns für sich zu beanspruchen.» 

Warum stösst sich die Öffentlichkeit an den Einkünften von gewissen Führungsleuten, aber nicht am Einkommen von Roger Federer, der nahezu 40 Millionen Franken jährlich  verdient?  

In einer Unternehmung leistet man etwas gemeinsam, der Verdienst sollte deshalb auf die Angestellten und die oberen Kader verteilt werden. «Der Sportler hingegen verkörpert das verdienstvolle, demokratische Ideal», sagte kürzlich der Sportsoziologie der Universität Lausanne, Fabien Ohl.

«Der Erfolg von Roger Federer ist einzig und allein seinem Talent zuzuschreiben. Deshalb ist es in den Augen der Öffentlichkeit berechtigt, dass ein grosser Teil seines Einkommens ihm zukommt.

Wenn sich hingegen ein Konzernleiter eine fürstliche Entlöhnung gönnt, kann er damit die Unternehmung in Gefahr bringen», doppelt der Ökonom Jacques Friboulet nach. «Die Sportler und die Filmstars sind dagegen unabhängig und niemandem etwas schuldig.»

Der Lohn sei ein wichtiger Bestandteil des Selbstbewusstseins, unterstreichen zahlreiche Psychologen. Deshalb sei es schwierig zu verstehen, wenn der Wert eines Einzelnen 200 bis 400mal den eigenen übersteigt.

Handelt es sich jedoch um eine Person aus einer anderen Dimension, wie Roger Federer, dann kann sich eine gewöhnliche Person gar nicht mit ihm messen.

«Roger Federer ist in der öffentlichen Wahrnehmung sicher sympathischer, doch seinen Grad an Verantwortung kann man nicht mit jenem eines Direktors einer grossen Unternehmung vergleichen», sagt Cristina Gaggini, Direktorin Westschweiz von Economiesuisse.

Maximale Lohnspannbreite von 1 zu 12?

Vor der Liberalisierungsbewegung der 1990er-Jahre erreichte das maximale Verhältnis der Lohnskala von grossen Unternehmungen einen Quotient von 1 zu 40. «In der öffentlichen Meinung entsprachen die hohen Saläre durchaus dem Grad der Verantwortung und der Risikobereitschaft der Führungskräfte», betont Jean-Jacques Friboulet.

Goldene Fallschirme, königliche Boni und Vorteile aller Art, die sogar bei schlechten Resultaten nicht versiegten, haben die Ausgangssituation geändert.

Dies brachte bei den Jungsozialisten (JUSO) das Fass zum Überlaufen. Sie

lancierten eine Volksinitiative mit dem Namen «1:12 –  gemeinsam für gerechte Löhne», die vor Ende Jahr zur Abstimmung kommen sollte.

Die Initiative verlangt, dass der Quotient (die maximale Lohnspannbreite) zwischen dem tiefsten und dem höchsten Lohn in einem Unternehmen nicht mehr als 1:12 betragen darf.

«Damit die Volksabstimmung eine Chance hat, mussten wir eine griffige Formel finden und kompromissbereit sein», sagt Alessandro Pelizzari. Der Gewerkschafter beteuert jedoch, dass es unmöglich sei, eine «anständige» Lohnschere zu bestimmen. «Bei der UNIA ist die Lohnspannbreite 1: 3. Doch bereits ein solcher Unterschied lässt sich nur schwer rechtfertigen.»

Jean-Jacques Friboulet schätzt, dass ein Verhältnis von 1:12 im öffentlichen Sektor akzeptierbar, jedoch nicht auf den Privatsektor übertragbar ist, denn  «eine Marktwirtschaft funktioniert nur, wenn das Interesse der Manager am Gewinn des Unternehmens geweckt wird.»

Cristina Gaggini zeigt sich unbeirrbar: «Kein Staat auf der Welt hat so eine Höchstgrenze festgelegt. Der Lohn ist die Quelle der Motivation. Wenn ein Chef viel verdient, zahlt er auch viel Steuern: In der Schweiz ist die Umverteilung schon seit langem gewährleistet.»

(Übertragung aus dem Französischen: Christine Fuhrer)

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