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Die humanitäre Krise hat Europa erreicht

Syrisches Flüchtlingscamp in Bulgarien. Cesare Giana

Seit Anfang 2013 sind Tausende syrischer Exilanten nach Bulgarien gekommen, wo sie unter misslichen Umständen leben. Sie können nur auf die Unterstützung von Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz zählen, da die lokalen Behörden in Sofia schlichtweg überfordert sind.

Tritt man durch das Tor der ehemaligen Militärbasis von Harmanli, nicht weit von der türkischen Grenze gelegen, fallen einem sofort zwei Dinge auf: Im riesigen Flüchtlingslager riecht es nach Rauch von brennendem Holz, der einem in die Nase sticht und in den Kleidern hängenbleibt. Menschen jeden Alters und jeder Herkunft sprechen einen an.

Darunter sind Männer vom Horn von Afrika, die um Essen bitten, das sie im improvisierten Kohlentopf kochen können, Afghanen, die fragen, wann sie die humanitären Dokumente erhalten, um sich in Europa frei bewegen zu können. Und schliesslich sind da die vielen Kinder, fast alle aus Syrien, die dich mustern und nach nur wenigen Sekunden fragen, ob man sie fotografieren möchte.

Im Camp in Harmanli hat es weder Strom, noch Wasser. Cesare Giana

Überwintern in Zelten

In diesem Flüchtlingslager leben – oder überleben – die Immigranten zusammengenpfercht auf engstem Raum. Nicht einmal die lokalen Behörden wissen, wie viele es genau sind. Rund 1500 warten darauf, registriert zu werden. Einige haben ihr Lager in Steinhäusern aufgeschlagen, die seit Jahrzehnten nicht mehr genutzt wurden. Es gibt keine Fenster, die Toiletten sind baufällig, und die verteilten Decken stinken nach Mottenkugeln, deren Geruch einen betäubt wie ein Beruhigungsmittel.

Glücklich sind jene Familien, die einen Container erhalten haben, darin lässt sich wenigstens an der Wärme schlafen. Doch der grosse Teil unter ihnen lebt immer noch in unbeheizten Zelten, die sich eher  für ein Wochenende im Sommer auf einem Campingplatz am Mittelmeer eignen als für den eisigen bulgarischen Winter.

Ohne wachen im Gefängnis

Verzweifelte Menschen überall: zum grössten Teil syrische Flüchtlinge, die vor einem nicht enden wollenden Krieg geflohen sind, junge Afghanen, Pakistani, Iraker und Malier, die über die Grenze zwischen Asien und Europa gekommen sind, um hier Arbeit zu finden. «Um uns zu wärmen, verbrennen wir das Holz, das wir finden, und nachts, wenn die Temperatur sinkt, versuchen wir uns zu bewegen und gehen um die Zelte herum, um nicht vor Kälte zu sterben», erzählt Rada, ein kurdischen Syrer, der sieben Tage im Gefängnis der Grenzpolizei ausharren musste, ohne sich waschen zu können.

Dies ist der Schauplatz einer vergessenen humanitären Krise innerhalb Europas, die Bulgarien nicht aus eigener Kraft zu meistern vermag. Auch die politische Situation im Balkanstaat ist für eine Lösung nicht förderlich. Im Kampf gegen die Einwanderung versucht die Regierung, die Parteien zu einen. Dagegen protestieren seit dem 14. Juni täglich vor dem Regierungssitz Studenten, Intellektuelle und Künstler.

Im Camp leben auch hunderte syrische Kinder. Cesare Giana

Internationale Solidarität

Seit Anfang Jahr sind 12‘000 Immigranten ins Land gekommen. Die Regierung unter dem Sozialisten Oresharsky konnte deren Lebensbedingungen kaum verbessern, und nur wenigen Asylgesuchen wurde stattgegeben. Doch in einem Punkt sind sich die Regierungsmitglieder einig: der Bau einer dreissig Kilometer langen Betonmauer soll die unbewachte Grenze hermetisch abriegeln, im Frühling soll sie fertig gestellt sein.

Zum Glück ist unter dem Druck des UNO-Flüchtlinghochkommissariats (UNHCR) die internationale humanitäre Hilfe endlich in Gang gekommen. Das UNHCR hat stets die misslichen Lebensbedingungen in den Zentren angeprangert. Spontan gegründete bulgarische Bürgervereinigungen und Nichtregierungs-Organisationen haben sich auch zur Hilfe entschlossen.

Das Internationale Rote Kreuz hat dem bulgarischen Roten Kreuz 172’000 Franken zur Verfügung gestellt. Weitere 250’000 Franken kommen vom Schweizerischen Roten Kreuz, damit sollen Hygienepakete für Familien, Küchensets und Kinderspielzeuge gekauft und verteilt werden.

In der ehemaligen Schule von Voenna Rampa,  an der Stadtgrenze von Sofia, leben 859 Flüchtlinge zusammengepfercht in Schulzimmern. Mehr als ein Drittel von ihnen sind Kinder, die die jungen Freiwilligen der ältesten und grössten humanitären Organisation mit Umarmungen empfangen. Sie spielen, lachen und zeichnen zusammen, ganz unbeschwert.

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Asyl in der Schweiz ist schwieriger geworden

Die Erwachsenen hingegen erzählen uns, wie schwierig ein Leben als Flüchtling unter diesen Bedingungen ist. Miriam, eine Frau aus Syrien, die ihre zwei Kinder im Arm hält, sitzt auf Kartons und Decken. Sie spricht von der Kälte, die durchs Fenster dringt. Ein Mann zeigt uns das braune Wasser, das aus dem Wasserhahn der wenigen und baufälligen Toiletten kommt.

“Wir trinken dieses Wasser, – sagt er – und wir müssen es unseren Kindern geben”. Was mit ihnen in den nächsten Monaten geschieht, ist unklar. Jene, die ein Asylgesuch eingereicht haben, werden ein humanitäres Visum erhalten und damit in ein anderes europäisches Land reisen können.

Enttäuschte Hoffnungen

Die Mehrheit unter ihnen will nach Deutschland reisen, doch es gibt auch solche, die in die Schweiz möchten. Bazan zum Beispiel, 22jährig, Chemiestudent im letzten Jahr. Er hat in der Schweiz Cousins, erinnert sich aber nicht genau wo: “Sobald ich in der Schweiz bin, rufe ich sie an. Ich hoffe, dass das Land mich aufnimmt, so könnte ich mein Studium abschliessen”.

Was er jedoch noch nicht weiss: das Eidgenössische Justiz-und Polizeidepartement hat am 29. November die erleichterte Erteilung von Besucher-Visa für syrische Flüchtlinge, die Verwandte in der Schweiz haben, aufgehoben. Die Regelung wurde am 4. September eingeführt. Bazan muss, jedenfalls für den Moment, seinen Lebensentwurf ändern. Sein Gesuch ist zu spät eingetroffen.

Aufgrund der dramatischen Lage in Syrien hat die Schweizer Regierung am 4. September 2013 angekündigt, ein Kontingent von 500 syrischen Flüchtlingen aufzunehmen, ausserhalb des ordentlichen Asylverfahrens. Einige Dutzend syrische Flüchtlinge haben von dieser Massnahme bereits profitieren können.

Der Bundesrat hat zudem entschieden, bestimmte Erleichterungen bei der Visumserteilung zu erlassen für syrische Flüchtlinge, die in der Schweiz eingebürgerte oder Verwandte mit einer B- oder C-Bewilligung haben.

Die Kriterien für  einen Familiennachzug wurden nicht auf die nächsten Verwandten (Ehegattin und Kinder bis 18 Jahre), wie normalerweise, begrenzt. Sie wurden erweitert auf Brüder und Schwestern mit ihren Familienangehörigen und andern Verwandten.

In weniger als drei Monaten sind so 719 syrische Bürger in die Schweiz gekommen, darunter 475 Frauen und Kinder. Total wurden rund 1600 Besucher-Visa ausgestellt.

Die Massnahme, die schnell und unbürokratisch durchgeführt wurde, erlaubte syrischen Familien, die vom Krieg betroffen waren, einen temporären Aufenthalt in der Schweiz. Die Weisung wurde jedoch am 29.November 2013 wieder aufgehoben.

Nach einer Erklärung der Schweizer Regierung “sind in den letzten Wochen Schwierigkeiten bei der Umsetzung der erleichterten Visumserteilung aufgetaucht”, insbesondere “wegen der hohen Anzahl von Visumsanträgen” (rund 5’000), die bei den Schweizer Vertretungen im Ausland eingereicht wurden.

Die Aufhebung, die von der Rechten positiv aufgenommen wurde, stand bei den linken Parteien und den Organisationen, die sich für die Asylbewerber in der Schweiz einsetzen, in der Kritik.

(Übertragen aus dem Italienischen: Christine Fuhrer)

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