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Die Kanzlerin soll vermitteln

Am 27. August erhielt Merkel in Österreich das "Grosse Goldene Ehrenzeichen". Nun kommt sie nach Bern, um neben politischen Gesprächen die Ehrendoktorwürde der Universität Bern abzuholen. Keystone

In Berlin regiert die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in direkter Nachbarschaft zur Schweizer Botschaft. Es sind hingegen bereits sieben Jahre vergangen, seit die deutsche Regierungschefin 2008 zuletzt offiziell nach Bern reiste. Nun hat sie sich endlich wieder in der Schweiz angekündigt. Man erhofft sich, dass sie in den delikaten Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU vermitteln könnte.

In den wenigen Stunden, die Angela Merkel von der Christlich Demokratischen Union (CDU) am 3. September in Bern für politische Konsultationen bleiben, werden die wichtigen aktuellen Themen wohl nur oberflächlich diskutiert werden können. Zumal die Kanzlerin im Rahmen ihres eintägigen Besuchs auch noch eine Ehrendoktorwürde der Universität Bern entgegennimmt. Auch die Hochschule wartet bereits seit 2009 darauf, der deutschen Regierungschefin die Ehrung persönlich zu überreichen.

Nimmt die Kanzlerin den kleinen Nachbarn im Süden also nicht wichtig genug? «Das glaube ich nicht», sagt Thomas Dörflinger. Der CDU-Abgeordnete aus Südbaden kennt als Vorsitzender der Deutsch-Schweizerischen Parlamentariergruppe das bilaterale Verhältnis gut. «Aber derzeit stehen einfach andere Themen oben auf der politischen Agenda.» Der weiter anschwellende Flüchtlingsstrom, die Griechenlandkrise oder der drohende EU-Austritt Grossbritanniens halten die Regierung in Berlin auf Trab. Da bleibe für die traditionelle Beziehungspflege weniger Zeit.

Konfliktthema Einwanderungs-Initiative

Dennoch gibt es auch im Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz einiges zu besprechen. Topthema der Konsultationen zwischen Angela Merkel und Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga wird vermutlich der durch die Masseneinwanderungs-Initiative entstandene Konflikt zwischen der Schweiz und der Europäischen Union sein.

Seit eine knappe Mehrheit der Eidgenossen im Februar 2014 für eine Begrenzung der Einwanderung votierte, ist die Stimmung zwischen Bern und Brüssel belastet. Die EU-Kommission hat wiederholt deutlich gemacht, dass eine Umsetzung dieses Ergebnisses nicht mit dem Freizügigkeitsabkommen und den bilateralen Verträgen zwischen der Schweiz und der EU vereinbar sei.

Streitthema Freizügigkeitsabkommen

Das Freizügigkeitsabkommen (FZA) wurde am 21. Juni 1999 von der Schweiz und der EU unterzeichnet. Seither kann eine unbegrenzte Zahl EU Bürger unter bestimmen Voraussetzungen in der Schweiz leben und arbeiten. Umgekehrt geniessen Schweizer das gleiche Recht in der gesamten Europäischen Union.

Im Rahmen des FZA werden auch gegenseitige Berufsdiplome anerkannt und die Sozialversicherungssysteme koordiniert.

Das FZA ist eines von sieben Abkommen der Bilateralen Verträge I. In diesem Paket werden auch die Freizügigkeit des Luftverkehrs, des Landverkehrs, des Handels mit landwirtschaftlichen Produkten geregelt sowie die technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit.

Die Aufkündung eines Teils des Pakets setzt automatisch sechs Monate später die anderen Abkommen ausser Kraft. Sobald die Schweiz die Freizügigkeit gegenüber EU-Bürgern einschränkt, kann die Union das Abkommen mit einer Zustimmung alle 28 Mitgliedsländer kündigen. Für eine Suspendierung der Verträge genügt eine qualifizierte Mehrheit.

In Bundesbern sucht man daher händeringend nach einen Ausweg aus dem Dilemma, dem Volkswillen zu entsprechen und es zugleich nicht zum Bruch mit der EU kommen zu lassen. Für diese Quadratur des Kreises ist bisher keine Lösung in Sicht. Auch der deutsche Aussenminister Frank Walter Steinmeier konnte da bei einem Besuch in Bern seinem Amtskollegen Mitte August keine Hoffnungen machen.

Nicht wenige in der Schweiz hoffen, dass sich nun die mächtige deutsche Kanzlerin vermittelnd in den Streit einschaltet. Immerhin hatte sie nach dem Urnengang vor vorschnellen Sanktionen der EU gewarnt und betont, man solle keinen Keil in die traditionell guten deutsch-schweizerischen Beziehungen treiben.

Wenig Spielraum für Entgegenkommen

Doch Dörflinger dämpft Erwartungen an die Kanzlerin: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendwelche Zugeständnisse in Aussicht stellt. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte.» Merkel bleibe in dieser Frage wenig Spielraum. Zwar sei der Dialog zwischen der Schweiz und der EU-Kommission vom Tonfall her verbindlicher geworden, so Dörflinger. Aber daraus dürfe man kein erstes Entgegenkommen schliessen: «Vom Inhalt her hat die Kommission ihren Standpunkt nicht verändert. Ich sehe keine Bereitschaft in Brüssel, über dieses Thema zu reden.»

Daran ändere auch die in Bern diskutierte Schutzklausel, mit der die Einwanderung nach transparenten Kriterien kontingentiert werden könnte, wenig. Die Kommission werde jeden Eindruck vermeiden, dass sie der Schweiz entgegenkomme, so Dörflinger. Schliesslich zeige sie sich in anderen Fragen selbst gegenüber EU-Ländern unnachgiebig, wie gegenüber Grossbritannien im Vorfeld des anstehenden EU-Referendums oder gegenüber Kroatien, dem sie als Neumitglied auf die Füsse tritt. «Da gibt es keine politischen Rabatte. Ich habe Verständnis für die Kommission, wenn sie sagt, dass sie auch der Schweiz als Nicht EU-Mitglied keine Zugeständnisse machen kann. Sonst würde sie ihre Glaubwürdigkeit verlieren.»

So gehen die Erwartungen an die deutsche Regierungschefin auch eher in atmosphärische Richtung. Ihre protestantisch bedächtige Art liegt den Schweizern zumindest sehr viel näher als beispielsweise das vorlaut-drohende Auftreten des ehemaligen deutschen Wirtschaftsministers Peer Steinbrück (Sozialdemokratische Partei SPD).

Der hatte im Streit um das Bankgeheimnis vor einigen Jahren durch seine martialischen Metaphern und Drohungen eine veritable Krise im deutsch-schweizerischen Verhältnis beschworen und Schweizer Ressentiments gegen die dominanten Deutschen neue Nahrung gegeben. Und auch Merkels Vorgänger Gerhard Schröder stiess mit seinem demonstrativen Selbstbewusstsein viele Eidgenossen vor den Kopf.

Es fehlt der «sentimentale Bezug»

Angela Merkel schlägt andere Töne an und verbringt zudem regelmässig Langlauf-Urlaube in den Schweizer Bergen. Dennoch: «Angela Merkel kommt nur, um das Engadin mit ihren Langlaufskiern zu durchqueren», spottete der Schweizer Mathieu von Rohr vor einigen Jahren im Spiegel. Und der Schweizer Blick bemerkte etwas beleidigt, dass der Kanzlerin «der sentimentale Bezug zur Schweiz» fehle; vermutlich, weil sie aus der DDR stamme.

Offizielle Besuche

Es ist nicht unüblich, dass zwischen den Besuchen deutscher Regierungschefs in der Schweiz etliche Jahre ins Land ziehen. Am häufigsten reiste noch Helmut Kohl nach Bern, was wohl auch in seiner langen Regierungszeit begründet liegt.

Während seiner Kanzlerschaft von 1982 bis 1998 war er 1989 und 1993 offiziell zu Besuch in Bern. Halboffiziell konnten die Eidgenossen ihn weitere zehn Mal in ihrem Land begrüssen.

Zehn Jahre dauerte es bis zum nächsten Besuch eines Kanzlers: Kohls Nachfolger Gerhard Schröder kam erst 2003 für einen bilateralen Austausch nach Bern, Angela Merkel dann 2008.

Auch alle deutschen Bundespräsidenten haben die Schweiz besucht. Zuletzt reiste Joachim Gauck im April 2014 nach Bern und Genf. Jährlich finden darüber hinaus zahlreiche Treffen auf Minister- und hoher Beamtenebene statt.

Ob in der kurzen Zeit des Besuchs Raum für Themen jenseits der Einwanderungs-Initiative bleibt, muss abgewartet werden. Unter anderem ist die Fluglärm-Diskussion nach dem Scheitern des Staatsvertrags weiter ungelöst. In grenznahen deutschen Gebieten wird die Entwicklung der Flugbewegungen rund um den Flughafen Zürich-Kloten argwöhnisch beobachtet.

«Das ist nach wie vor eines der Topthemen in meinem Wahlkreis», bestätigt der südbadische Abgeordnete Dörflinger. Dort wehrt man sich gegen die hohe Zahl an Anflügen über deutschem Gebiet auf den grössten Schweizer Flughafen. Eine Lösung ist bei diesem Dauerstreitthema nicht in Sicht. «Es gibt keine erkennbare Bewegung und keinen Fortschritt in der Aufarbeitung der Sachfragen», so Dörflinger.

Deutschland in der Bringschuld

Bei einem anderen Thema ist die deutsche Seite hingegen eindeutig in der Bringschuld: Während die Schweiz wie vereinbart bis 2017 den Schienenverkehr auf der neuen Alpentransversale Neat starten will, hängt der Ausbau der Zubringerstrecke zwischen Karlsruhe und Basel dem Zeitplan weit hinterher. «Wir müssen einsehen, dass wir nicht wie vereinbart bis 2017 so weit sein werden wie vorgesehen», räumt Dörflinger ein. Experten rechnen gar mit einer Verzögerung um ein Jahrzehnt. «Aber ich gehe davon aus, dass die Strecke bis 2017 auf deutscher Seite so weit ertüchtigt wird, dass sie funktioniert. Auch wenn bis dahin nicht alle Aufgaben abgearbeitet worden sind», sagt der Abgeordnete.

Doch es gibt durchaus auch Positives zu vermelden: Dass die Schweiz sich gegenüber der EU in einer OECD-Deklaration bereit erklärt hat, ihr Bankgeheimnis bis 2018 quasi zu begraben, stösst in Deutschland auf Anerkennung. Ein lang schwelendes Konfliktfeld ist damit zumindest bereinigt. Viele andere bleiben.

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