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«Die Krise hat gravierende soziale Auswirkungen»

Lorenzo Amberg in der Schweizer Botschaft in Athen. swissinfo.ch

Die politische Stimmung in Griechenland habe sich seit der Einsetzung der Übergangsregierung etwas beruhigt, und der Wille für die nötige Veränderung fasse langsam Fuss. Dies sagt Lorenzo Amberg, Schweizer Botschafter in Athen, im Gespräch mit swissinfo.ch.

Seit der Einsetzung der Übergangsregierung von Loukas Papadimos hat sich die politische Stimmung im Land etwas beruhigt. Am 6. Dezember kam es an einer Demonstration zum Gedenken an einen Jugendlichen, der 2008 von der Polizei erschossen worden war, in Athen zwar zu Krawallen. Die alljährliche Manifestation Mitte November zur Erinnerung an die Ereignisse am Polytechnikum 1973 Ende der Obristenzeit sowie der Generalstreik vom 1. Dezember verliefen jedoch friedlich.

swissinfo.ch: Geht es der Bevölkerung besser, seit die Übergangsregierung am Ruder ist?

Lorenzo Amberg: Es ist weniger Unsicherheit vorhanden als noch Anfang November. Man weiss jetzt, dass es eine Koalitionsregierung gibt, die sich bemüht, all diese Sparvorgaben und wirtschaftlichen Massnahmen durchzuführen.

Das heisst nicht, dass diese Beruhigung von Dauer sein wird, denn möglicherweise gibt es im Februar oder März Neuwahlen. Zuerst einmal will man der neuen Regierung eine Chance geben und sie arbeiten lassen.

swissinfo.ch: Griechenland werde trotz erneuter Milliardentranche Bankrott gehen, aus der Eurozone ausgeschlossen werden und gar zur Drachme zurückkehren, hört man immer wieder. Ist diese Befürchtung berechtigt oder pure Paranoia?

L.A.: Es gibt alle möglichen Ängste in einer solchen Situation. Vor allem hat sich das Bewusstsein verbreitet, dass die Krise nicht nur eine griechische, sondern eine gesamteuropäische sei. Das heisst aber nicht, dass alle Griechen glauben, Griechenland werde morgen aus der Eurozone austreten.

Gemäss Umfragen ist eine recht komfortable Mehrheit der Griechinnen und Griechen der Ansicht, das Land werde in der Eurozone verbleiben. Eine Mehrheit der Bevölkerung steht auch zu Europa. Es gibt keine nennenswerte anti-europäische Stimmung. Man weiss, dass das Schicksal des Landes eng mit Europa verbunden ist.

swissinfo.ch: Und wie steht es um die anti-deutsche Stimmung in Griechenland?

L.A.: In der Presse gibt es eine solche Tendenz, aber das ist nicht nur in Griechenland der Fall. Auch in anderen europäischen Ländern stellt man sich Fragen zur Rolle Deutschlands im heutigen Europa. Das gehört zum normalen demokratischen Meinungsbildungs-Prozess – in Griechenland wie anderswo.

swissinfo.ch: Wie steht es um den Sparwillen in der Bevölkerung? Begreifen die Leute, dass sich etwas ändern muss?

L.A.: Weit verbreitet ist die Ansicht, man habe lange Zeit ein Wachstum gehabt, das nicht auf Produktion, sondern auf Konsumation beruhte, man habe Geld ausgegeben, das einem nicht gehörte, das von der Bank, von der EU ausgeliehen wurde – und dass es so nicht weitergehen kann.

Langsam hat sich das Bewusstsein durchgesetzt, dass gewisse strukturelle Anpassungen gemacht werden müssen, in der politischen Landschaft, im Management der einzelner Ministerien, im öffentlichen Leben. Wie das genau aussehen wird, weiss niemand so recht. Aber der politische Wille zur Veränderung ist da.

swissinfo.ch: Renten werden gekürzt, Steuern und Preise steigen. Einmal mehr trifft es die kleinen Leute. Man hört gar von Menschen, die zu wenig Geld für Medikamente und Nahrungsmittel haben. Gibt es eine neue Armut?

L.A.: In gewissen Quartieren in Athen sieht man diese Armut, nicht nur unter den illegalen Einwanderern, dort hat sie immer schon bestanden, sondern mehr und mehr auch unter der griechischen Bevölkerung. Auch Organisationen wie  «Ärzte ohne Grenzen» oder caritative Einrichtungen der orthodoxen Kirche stellen eine grosse Zunahme an Hilfsbedürftigen im Nahrungsmittel- und medizinischen Bereich fest.

Es stimmt, dass diese Krise gravierende Auswirkungen auf die soziale Lage hat. Dazu kommt eine Arbeitslosigkeit, die nach offiziellen Angaben 18% beträgt. Bei den Jugendlichen ist diese Marge mehr als doppelt so hoch.

swissinfo.ch: Also eine Jugend ohne Zukunft?

L.A.: Ohne Zukunft würde ich nicht sagen, aber eine Jugend in einer gegenwärtig sehr schwierigen Lage. Deshalb wollen auch vermehrt junge Leute auswandern.

Es hat aber in der jüngsten Geschichte Griechenlands immer wieder Perioden gegeben, wo viele junge, aktive Kräfte ausgewandert und später teilweise wieder zurückgekehrt sind und beim Aufbau des Landes geholfen haben.

swissinfo.ch: In Griechenland leben auch sehr reiche Leute, die ihr Geld u.a. in die Schweiz geschafft haben. Wo stehen die Verhandlungen zwischen der Schweiz und Griechenland in Sachen Abgeltungssteuer?

L.A.: Dieses Thema hat in der griechischen Öffentlichkeit und im Parlament grosses Interesse hervorgerufen. Laut dem Finanzdepartement in Bern haben in diesem Jahr Kontakte auf Staatssekretärs-Ebene stattgefunden. Bern hat auch die Bereitschaft für Verhandlungen signalisiert und die griechische Seite über die Grundzüge der Abkommen informiert, wie sie bereits mit Deutschland und Grossbritannien abgeschlossen wurden.

swissinfo.ch: Von welcher Höhe unversteuerter griechischer Vermögen, die in der Schweiz lagern, gehen Sie aus?

L.A.: In der Presse werden Zahlen zwischen 40 und 200 Milliarden Euro herumgereicht. Es ist zu vermuten, dass die erste Zahl näher bei der Wahrheit liegt als die zweite.

swissinfo.ch: Gibt es weitere Möglichkeiten, wie die Schweiz Griechenland bei der Sanierung des Haushaltes und des Staates unterstützen könnte?

L.A.: Ja, etwa auf dem Gebiet der Migration. Die Schweiz und Griechenland sind beide Mitglieder des Schengen-Raums. Wir stellen fest, dass Griechenland grosse Probleme bei der Bewältigung des Ansturms illegaler Einwanderer hat, einfach weil viele Strukturen, die es in der Schweiz gibt, fehlen.

In diesem Jahr hat sich eine Delegation des Bundesamts für Migration die Lage angeschaut und überlegt, wie man den griechischen Behörden im Rahmen von Frontex (Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen), aber auch bilateral unterstützen könnte, damit sie mit dieser Migrations-Situation besser zurecht kommen. Wir haben im Rahmen von Frontex mehrere Grenzwächter an die Grenze zur Türkei geschickt.

Am 11.November ist in Griechenland die Übergangs-Regierung unter Loukas Papadimos vereidigt worden.

Es ist das erste Mal, dass es in Griechenland eine echte Koalitionsregierung gibt.

Die sozialistische Pasok, die rechte Nea Dimokratia und die populistische rechte Laos-Partei stellen alle Minister.

Der neue Ministerpräsident ist ein Technokrat. Er kommt aus der Finanzwelt und war früher Vizepräsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Er hat keine politische Vergangenheit.

Das griechische Parlament hat am 7. Dezember dem umstrittenen Sparhaushalt für 2012 mit grosser Mehrheit zugestimmt.

Der Budgetplan von Ministerpräsident Papademos sieht weitere Steuererhöhungen, drastische Einsparungen im öffentlichen Dienst und raschere Privatisierungen vor. 
 

Die Regierung erhofft sich davon Kürzungen bei den Staatsausgaben um rund 5 Mrd. Euro und zusätzliche Einnahmen in Höhe
von 4,5 Mrd. Euro.
 
Zudem soll es einen freiwilligen Schuldenschnitt in Höhe von 50% für griechische Staatsanleihen geben.

Ziel ist es, das Defizit von etwa 9% des Bruttoinland-Produkts in diesem Jahr auf 5,4% im kommenden Jahr zu drücken.

Die Arbeitslosenquote in Griechenland sank im September auf 17,5%, im August hatte sie noch 18,4% betragen. 2010 lag sie bei 12,6%.

Hart betroffen sind weiterhin junge Menschen: Zwischen 15 und 24 Jahren sind 46,4% ohne Arbeit. Vergangenes Jahr lag die Quote bei 33,6%.

Arbeitslose erhalten in Griechenland nur ein Jahr lang Arbeitslosengeld. Danach ist keine Unterstützung mehr vorgesehen.

Quelle: Griech. Statistikbehörde (ELSTAT)

In Griechenland leben knapp 3400 Schweizer Staatsangehörige, Tendenz sinkend. Beim Grossteil von ihnen handelt es sich um Doppelbürger.

Pro Jahr reisen etwa 350’000 Schweizer Touristen nach Griechenland. 

In der Schweiz sind rund 6000 griechische Staatsbürger registriert.

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