Die Mär vom Sozialwerke-Karussell
Das Bild vom Empfänger, der von einem Sozialwerk zum anderen "abgeschoben" wird, ist falsch. Weniger als ein Prozent der Bezüger wechselte mehr als einmal die Stützungs-Institution, wie eine Studie belegt.
Der so genannte Drehtüreneffekt mag zwar ein schönes sprachliches Bild abgeben, um «Politik» zu machen.
Der Begriff bildet aber die Realitäten im Alltag der Sozialwerke schlecht ab. Nur gerade 8200 Personen oder 0,9 Prozent wechselten innerhalb des Dreigestirns Arbeitslosenversicherung (ALV), Invalidenversicherung (IV) und Sozialhilfe mehr als einmal den Leistungserbringer.
Dies zeigt eine Untersuchung, welche die Berner Fachhochschule soziale Arbeit für das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) verfasste. Darin legten die Sozialforscher das Augenmerk in erster Linie auf die Bewegungen innerhalb der drei Institutionen.
Hohe «Sockelleistungen»
Da überrascht schon mehr, dass im Zeitraum der Untersuchung von 2004 bis 2006 insgesamt rund 930’000 Menschen in der Schweiz Gelder von ALV, IV oder der Sozialhilfe bezogen. Das sind ein Fünftel der Schweizer Wohnbevölkerung im arbeitsfähigen Alter. Dabei lief der Motor der Wirtschaft 2004 bis 2006 ja auf Hochtouren.
«Ich bin sehr froh, dass diese Zahl in der Studie deutlich ausgesprochen wird», sagt Walter Schmid gegenüber swissinfo. Für den Präsidenten der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) ist es keine Überraschung, dass «ein beachtlicher Teil der Bevölkerung» auf Sozialversicherungen oder Sozialhilfe angewiesen sei.
Im Schnitt
Damit steht die Schweiz im Vergleich zum Ausland laut Schmid nicht anders da. «Die Gesellschaften haben vergleichbare Probleme.» Vermutlich weise die Schweiz gar leicht weniger Menschen in den Sozialversicherungen auf als die Nachbarländer.
Die grösste Bewegung fand aus der ALV Richtung Sozialhilfe statt. 38’000 Personen vollzogen diesen Schritt. Für Schmid ist das Abbild eines normalen Prozesses, Stichwort Langzeitarbeitslosigkeit: «Ein Teil der Arbeitslosen wird nach Ablauf des Bezugs von ALV-Taggeldern (befristet auf 400 Tage, die Red.) ausgesteuert, weil sie es nicht mehr in den Arbeitsmarkt schafften.»
Oft könnten diese Menschen noch für eine gewisse Zeit von ihren Vermögen oder der Unterstützung von Verwandten oder Bekannten leben. «Danach aber sind sie auf Sozialhilfe angewiesen», sagt Schmid, Rektor der Hochschule Luzern für Soziale Arbeit.
Durchschlag mit Jetlag
Das Rezept tönt einfach: Die Betroffenen wieder in den Arbeitsprozess zu bringen. «Aber wir wissen, dass das schwierig ist, und in nächster Zeit noch schwieriger werden wird», sagt der Skos-Präsident mit Blick auf die Wirtschaftskrise, die auch die Schweiz erfasst hat.
Immerhin dauert es eine gewisse Zeit, bis sich die Rezession bis auf die Sozialhilfe niederschlägt. Arbeitslosenversicherung, Aussteuerung, danach Sozialhilfe, skizziert Schmid den Ablauf.
Trotzdem hat die Skos bereits Anfang Jahr darauf aufmerksam gemacht, dass 2009 ein massiver Anstieg der Fallzahlen droht. Von bis zu 100’000 zusätzlichen Fällen war die Rede. «Die Sozialdienste wären in diesem Fall äussersten Belastungen ausgesetzt», warnt Schmid.
Langzeitperspektive
Die Studie räumt zwar mit dem Mythos der Bezüger auf, die mit der hohlen Hand von einer Behörde zur nächsten weitergereicht werden. Dennoch besteht laut Schmid weiterer Handlungsbedarf, was die Weiterentwicklung des Sozialsystems betrifft.
Er plädiert dafür, Bezüger vermehrt im Langzeitfokus zu beobachten. Ihn interessiert, was zwischen Austritt dort und Eintritt hier passiert. «Die Wechsel geschehen nicht direkt, vielmehr gibt es Zwischenstufen und längere Übergänge.» Jemand, der ein- oder zweimal Sozialhilfe bezogen habe, lande später vielleicht bei der IV.
«Wir müssten die Biographien und Lebensläufe der Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg prüfen», so Schmid. «Wie entwickelt sich beispielsweise jemand, der in der letzten Rezession ausgegrenzt worden war. Welche Perspektiven hatte diese Person, wie ist der Lebenslauf?»
Treffen die dunklen Prognosen zu, welche die Arbeitsmarktspezialisten vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) jüngst machten – die Bundesbehörde rechnet 2010 mit 200’000 Arbeitslosen – dürfte den Sozialforschern der Stoff für weitere Untersuchungen kaum ausgehen.
swissinfo, Renat Künzi
Von 2004 bis 2006 bezogen 930’000 Menschen oder ein Fünftel der arbeitstätigen Bevölkerung in der Schweiz Leistungen aus IV, ALV und Sozialhilfe.
460’057 kamen als Bezüger neu hinzu, 459’575 verliessen die Unterstützung.
Den grössten Zuwachs wies die Sozialhilfe mit 40’000 Neuzugängen auf (+15%). Davon kamen allein 38’000 aus der ALV (Ausgesteuerte).
8% der Bezüger wechselten mindestens einmal den Leistungserbringer.
8200 Personen oder 0,9% vollzogen diesen Schritt zwischen 2004 und 2006 mindestens zweimal («Drehtüreffekt»).
(Quelle: «Quantifizierung der Übergänge zwischen Systemen der Sozialen Sicherheit», Studie der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit).
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch