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«Die ‹Masseneinwanderungs-Initiative› war für mich eine kalte Dusche»

Ritratto di giovane donna
Laura Clemens: "Die Geschichten meiner Studierenden machten mir bewusst, wie schwierig das Leben und Arbeiten hier sein kann, ohne die Sicherheit, die das Freizügigkeitsabkommen bietet." swissinfo.ch

Für die Deutsche Laura Clemens, die seit 2008 in Zürich wohnt und arbeitet, zeigt die "Begrenzungs-Initiative", über die am 27. September abgestimmt wird, das Unbehagen eines Teils der Schweizer Gesellschaft.

Wir befinden uns im Kreis 5 von Zürich, einst das industrielle Epizentrum der Stadt, heute ein sehr begehrtes Wohngebiet. Laura Clemens trifft uns an der Neugasse 116, wo sich einer der Hauptsitze einer der grössten Erwachsenenbildungsinstitutionen befindet, die vor 50 Jahren in der italienischen Einwanderungsszene geboren wurde und im Laufe der Zeit zu einem Bezugspunkt für andere Migrantengemeinschaften in der Schweiz geworden ist: ECAP.

Laura Clemens ist Lehrerin am Institut. Ihre Art zu sprechen und ihr Akzent brechen sofort mit dem Klischee, Deutsch sei eine harte Sprache ohne Musikalität: Wenn Clemens spricht, wird Goethes Sprache zur Melodie. Wir beschliessen jedoch, uns auf Italienisch zu verständigen. Ihr Italienisch ist perfekt, fehlerfrei und mit einem leichten Akzent aus Mittel-Süditalien, was viel über ihre Biografie aussagt.

Geboren und aufgewachsen in der Umgebung Kölns, zog Clemens später nach Rom, um vergleichende Literaturwissenschaft zu studieren. Nach ihrem Studium spezialisierte sie sich auf das Unterrichten von Deutsch als Zweitsprache, lebte in Belgien, Polen und Deutschland, ehe sie schliesslich nach Zürich zog und beim Verlag Kein & Aber anheuerte. Leider geriet der Verlag nach einiger Zeit in eine Krise und musste Personal abbauen.

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Die Welt im Klassenzimmer

Dank ihrer gesammelten Erfahrung fand sie problemlos eine Stelle in einem ihrer Spezialgebiete: Deutschunterricht für Erwachsene. Im Jahr 2012 fand sie eine Stelle bei ECAP.  «Mir gefiel die Idee, Menschen mit Migrationshintergrund zu unterrichten, um ihnen mehr Berufs- und Lebenswerkzeuge an die Hand zu geben, sie autonomer zu machen. Ich habe sofort verstanden, dass meine Arbeit grundlegend notwendig ist. In meinen Klassen versammelt sich die ganze Welt; ich treffe unterschiedliche Menschen, die sich nicht nur durch ihre ethnische Zugehörigkeit und Kultur unterscheiden, sondern auch durch ihr berufliches Niveau.»

«Viele meiner Studierenden leben unter prekären Bedingungen und haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.»

Viele Ihrer Schülerinnen und Schüler haben keinen EU-Pass, was sie mit den Schwierigkeiten derjenigen konfrontiert, die nicht in den Genuss der Rechte kommen, die das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union garantiert: «Die Geschichten meiner Studierenden machten mir bewusst, wie schwierig das Leben und Arbeiten hier sein kann, ohne die Sicherheit, die das Freizügigkeitsabkommen bietet. Und ohne die Möglichkeit, nahestehende Menschen dank Familiennachzug in die Schweiz zu holen.» Viele ihrer Studierenden lebten unter prekären Bedingungen, hätten Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Das sei oft ein Hindernis für ihre Integration.

Sich Wohlfühlen

Laura Clemens hat sich in Zürich in einen Italiener verliebt, der inzwischen das Schweizer Bürgerrecht angenommen hat. Heute ist sie Mutter eines 7-jährigen Mädchens und eines 2-jährigen Jungen, die ebenfalls eingebürgert wurden.

«Ich hoffe wirklich, dass das Schweizer Volk nicht beschliesst, wieder Jahre zurück zu gehen.»

«Ich fühle mich hier wohl», sagt Clemens. Zürich sei eine sehr offene Stadt. «Ich hatte noch nie Probleme mit den Menschen um mich herum. Manchmal fällt es mir deshalb schwer, die Diskrepanz zwischen den Umfrageergebnissen und meinen persönlichen Erfahrungen zu verstehen. Die Annahme der Initiative ‹gegen Masseneinwanderung› 2014 war für mich wie eine kalte Dusche.» Sie glaube, sagt Clemens, dass die Schweizer Gesellschaft als Ganzes teilweise feindselig gegenüber der ausländischen Präsenz sei. Vielleicht bestehe die Angst, etwas zu verlieren – vor allem die Arbeit. «Die SVP macht sich diese Angst zunutze, nährt sie und zieht Vorteile daraus», meint die Deutsche. «Aber ich bin zuversichtlich und hoffe wirklich, dass das Schweizer Volk nicht beschliesst, wieder Jahre zurück zu gehen.»

Sibilla Bondolfi

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