«Die Mauer der Angst in Tunesien niederreissen»
Gut zwei Jahre nach dem Zusammenbruch des Regimes von Ben Ali in Tunesien wird am Weltsozialforum in Tunis über die Wirtschaftskrise debattiert, deren soziale und politische Auswirkungen ins Chaos führen können. Gesucht wird aber auch nach neuen Horizonten für die Revolution.
Hajar El Fanzari, 22 Jahre alt, ist vor wenigen Tagen in Tunis eingetroffen. Die junge Marokkanerin mit Schleier lebt in einer Stadt in der Nähe von Rabat und gehört der Nichtregierungs-Organisation «Quartiers du Monde» an.
Diese französische NGO kämpft in ärmeren Quartieren gegen die soziale Ausgrenzung. «Die tunesische Revolution ist uns nahegegangen und hat uns inspiriert», sagt sie. «Zum Beispiel führte sie dazu, dass wir eine Untersuchung über die Beteiligung der Jugend am politischen Leben durchgeführt haben.»
Wie die von den Organisatoren erwarteten etwa 70’000 Personen ist Hajar in die tunesische Hauptstadt gekommen, um am Weltsozial-Forum (WSF) teilzunehmen, das am 26. März mit viel Musik eröffnet wurde.
Für diese junge Frau ist das traditionelle Treffen der Globalisierungskritiker vor allem eine Gelegenheit, ihre Erfahrungen zu teilen und dem tunesischen Volk ihre Solidarität auszudrücken.
Nach Nairobi 2007 und Dakar 2011 ist es das dritte Mal, dass das Weltsozial-Forum (WSF) in Afrika stattfindet.
Die Ausgabe 2013 des WSF findet vom 26. bis 30. März statt. Die Organisatoren erwarten 70’000 Teilnehmende.
Für sie sind 4000 Workshops, Konferenzen und Veranstaltungen geplant. Im Zentrum der Debatten stehen die Bewegungen im arabischen Raum, die verschiedenen Krisen wie auch die von den Vereinten Nationen (UNO) lancierte Diskussion um eine neue globale Entwicklungs-Agenda.
Die Schweizer Delegation am WSF besteht aus über 60 Personen, darunter Vertreter von Gewerkschaften und Nichtregierungs-Organisationen (NGO) sowie sechs Parlamentarierinnen und Parlamentarier, darunter die grüne Nationalrats-Präsidentin Maya Graf.
Alliance Sud, die Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungspolitik, der sieben Schweizer NGO angehören, organisiert im Rahmen des WSF Workshops zur Frage der Gelder des Ex-Diktators Ben Ali und seines Clans in der Schweiz sowie zum neuen, vom Schweizer Parlament angenommenen Abkommen über Investitionen zwischen der Schweiz und Tunesien.
Die Schweizer NGO «E-Changer» veranstaltet zusammen mit weiteren Entwicklungs-Organisationen einen Workshop über Themen der Entwicklungs-Zusammenarbeit und sozialen Bewegungen.
Ein Land auf der Kippe
Das Land, das den Arabischen Frühling angestossen hat, sieht sich mit kolossalen Herausforderungen konfrontiert. Die Arbeitslosigkeit hat bis heute auf fast eine Million Personen zugenommen. Die Preise steigen. Die politische Situation ist chaotisch. Eine neue Verfassung lässt auch auf sich warten.
Zudem wird Ennahda, der grössten der drei Parteien, welche die Regierung bilden, vorgeworfen, die Unsicherheit im Lande zu schüren und mit einem konkreten Projekt die Gesellschaft zu islamisieren.
Für Besma Khalfoui kommt das Solidaritätszeichen des WSF in einem Moment, wo dies dringend nötig sei, wie sie vor der Schweizer Delegation in Tunis erklärte: «Wir brauchen die Unterstützung aller, um die Mauer der Angst in Tunesien niederzureissen», sagte die Witwe von Chokri Belaïd, jenem Führer der linken Volksfront, der am 6. Februar 2013 ermordet wurde.
Diese Frau, die trotzdem zum Symbol der laizistischen Opposition geworden ist, glaubt, dass sich die Situation zuspitzt: «Die Demokratie in Tunesien ist in Gefahr. Wir haben Angst, das zu erleben, was in Algerien in den 1990er-Jahren Alltag war.»
Unter den Tunesiern hört man oft diesen Satz: «Wenn wir mit der Revolution etwas erreicht haben, dann, dass wir nicht mehr schweigen. Für den Rest…» Doch auch die freie Meinungsäusserung hat in Tunesien noch einen langen Weg vor sich.
«Allein im Februar wurden 52 Journalisten angegriffen. Es gab erste Morddrohungen», sagt Sophia Hammani, Korrespondentin der Website hdod.com in London, die auf News aus der arabischen Welt spezialisiert ist. «Ich persönlich erhalte jedes Mal, wenn ich etwas publiziert habe, Beschimpfungen von den ‹Facebookern› der Ennahda.»
Hoffnung gibt Hammani und Khalfoui die grosse Weisheit, mit der das tunesische Volk es bisher vermieden habe, zu den Waffen zu greifen. «Gegen Gewalt muss man mit Worten kämpfen», rief die Witwe von Chokri Belaïd. Sie will eine Stiftung gegen politische Gewalt ins Leben rufen.
Neues Leben
Neben der Botschaft der Solidarität könnte das Weltsozial-Forum dem schwindenden revolutionären Geist neues Leben einhauchen. «Heute sind viele Tunesierinnen und Tunesier demoralisiert. Viele können das Wort ‹Revolution› nicht mehr hören», sagt Fatma Dhaouadi, eine im Bergbaugebiet um die Oase Gafsa aktive Gewerkschafterin. Dort war es 2008 zu Unruhen gekommen, die wohl der Auftakt der tunesischen Revolution zwei Jahre später waren.
Für die sozialen Bewegungen in Tunesien wird die grosse Herausforderung sein, breite Teile der Bevölkerung dabei einzubeziehen, um die nationalen Grenzen zu überwinden. «Das Risiko besteht, dass das WSF ein Treffpunkt von Militanten bleibt», sagt Fathi Chamkhi, Mitglied der Volksfront.
«Zudem haben wir bisher wenig Kontakte mit Ägypten, Marokko und so weiter. Doch die Probleme, mit denen wir kämpfen, gibt es nicht nur in Tunesien, wie uns einige glauben machen wollen, sondern in vielen anderen Ländern auch», so Chamkhi.
Das WSF habe eine klare Botschaft: «Es gibt nicht die anderen und uns. Ich denke, wenn wir aufhören, uns immer nur auf Tunesien zu fokussieren, könnte dieses Treffen zu einem Wendepunkt werden und der Revolution neue Horizonte eröffnen.»
Von Tunesien in die Welt
Und was erwartet die globalisierungskritische Bewegung vom Forum? «Auf internationalem Niveau wurde eine grosse Debatte lanciert, um eine Agenda auszuarbeiten, die 2015 die Millenniumsziele ersetzen und sie mit den Zielen zur nachhaltigen Entwicklung von Rio +20 kombinieren kann», sagt Peter Niggli, Direktor der Schweizer NGO Alliance Sud.
In Tunesien gehe es darum, genau zu festzulegen, «wie die Zivilgesellschaft auf den verschiedenen Kontinenten mobilisiert werden kann, um diese Post-2015-Agenda zu beeinflussen».
Für Niggli ist es heute «schwierig, von einer weltweiten globalisierungskritischen Bewegung zu sprechen, denn die Situationen sind sehr unterschiedlich». Der Gegner sei regionaler geworden.
So seien in Europa die gemeinsamen Gegenspieler der Jugendbewegungen, die von Spanien und Griechenland ausgegangen seien, nicht mehr die grossen internationalen Institutionen wie etwa der Internationale Währungsfonds (IWF), sondern vielmehr nationale Regierungen oder die Europäische Union (EU).
Eine der grossen Herausforderungen in Tunesien sei daher, zu definieren, «welches die wichtigen internationalen Fragen für alle sind», präzisiert Niggli.
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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