Die Mehrheit hat immer Recht – oder nicht
Alle Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind gleich – aber einige sind gleicher als andere, je nachdem, wo sie wohnen. Eine der Massnahmen in der Bundesverfassung zum Schutz von Minderheiten sieht seit 1848 vor, dass der Wille der Mehrheit manchmal überstimmt wird. Ist das noch zeitgemäss?
Das letzte Beispiel war die Abstimmung vom 3. März 2013. Der Bundesbeschluss über die Familienpolitik hätte Eltern dabei unterstützen sollen, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen – zum Beispiel mit Geldern für Kinderhorte. Er wurde von 54% des Stimmvolks gutgeheissen.
Auch den Segen des Bundesrats und beider Parlamentskammern hatte der Bundesbeschluss bereits. Doch weil er eine Änderung der Bundesverfassung bedingt hätte, musste gesamtschweizerisch darüber abgestimmt werden.
Das heisst, um angenommen zu werden, hätte die Vorlage neben einer Mehrheit der Stimmen (Volksmehr) auch eine Mehrheit der 26 Schweizer Kantone (Ständemehr) gebraucht – was sie nicht schaffte.
Man muss kein Mathematiker sein, um zu realisieren, dass die Stimmen von Bürgerinnen und Bürgern in einigen Kantonen weit mehr Gewicht haben als in anderen. Im ländlichen Halbkanton Appenzell Innerrhoden – der bei den so genannten Ständestimmen eine halbe Stimme hat – leben 16’000 Personen, während im bevölkerungsreichsten Kanton Zürich 1,4 Millionen leben.
Je nach Berechnungsart bedeutet das, dass eine Stimme in Appenzell Innerrhoden gleich viel Gewicht hat, wie 35 bis 44 Stimmen im Kanton Zürich.
Das Scheitern des Familien-Artikels hat in der Schweizer Presse zu einer Vielfalt an Kommentaren geführt, wie auch zu Überlegungen betreffend dem System des so genannten Ständemehrs der Kantone. Die Frage wurde aufgeworfen, ob es angesichts der demografischen Veränderungen nicht an der Zeit sei, dieses System zu ändern. 1850 betrug das Bevölkerungs-Verhältnis zwischen Appenzell Innerrhoden und Zürich nur eins zu acht.
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Historische Basis
Was heute unvernünftig scheine, habe 1848 bei der Gründung des modernen Bundesstaats Schweiz absolut Sinn gemacht, sagt Politologe Wolf Linder. «Die Schweiz wurde von einem freiwilligen Staatenbund geschaffen. Das war der Preis: Wer einen föderalen Staat haben wollte, musste den kleinen Kantonen einen Kompromiss anbieten, um sie zum Beitritt zu überzeugen.»
Das Ständemehr sei ein Teil des Pakets gewesen, so Linder weiter: «Es gab die katholischen und die protestantischen, die französischsprachigen und die deutschsprachigen Kantone; die Idee des Föderalismus war der Schutz der Minderheiten – der Katholiken und Französischsprechenden.»
Das Ständemehr ist für Ruedi Lustenberger, Luzerner Nationalrat der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP), «fast in Stein gemeisselt». Würde dieses abgeschafft, wäre das für ihn ein «Verrat» an der Idee des Zweikammer-Systems des Parlaments (Volkskammer und Kantonskammer), das die katholisch-konservativen Kantone damals überzeugt habe, dem neuen Staat beizutreten.
Gesetze, die vom Parlament abgesegnet worden sind, können zur Abstimmung gebracht werden, wenn innerhalb von 100 Tagen nach Publikation des Gesetzes 50’000 gültige Unterschriften dagegen gesammelt werden (Referendum).
Wenn ein neues Gesetz eine Änderung der Bundesverfassung bedingt, kommt es automatisch vors Stimmvolk (obligatorisches Referendum).
Wenn eine Interessengruppe oder Partei ein neues Gesetz oder eine Gesetzesänderung vorschlägt und dafür 100’000 gültige Unterschriften sammeln kann, kommt diese so genannte Volksinitiative an die Urnen.
Sowohl das obligatorische Referendum wie auch die Volksinitiative müssen nicht nur von einer Mehrheit des Stimmvolks angenommen werden (Volksmehr), sondern auch von einer Mehrheit der Kantone (Ständemehr): Dies ist das «doppelte Mehr».
Von den 585 Volksabstimmungen seit 1848 ist es nur in neun Fällen dazu gekommen, dass das Stimmvolk eine Vorlage angenommen hat, die Kantone aber nicht.
Der erste Fall war ein Referendum über Gewichte und Masse 1866. Dann dauerte es 89 Jahre bis zu einer Vorlage über Konsumentenschutz. In beiden Fällen war das Volksmehr sehr dünn. Die restlichen 7 kamen nach 1970 vor.
In allen neun Fällen gab es «Gewinner» und «Verlierer»: Die Kantone Schwyz und Aargau sowie die beiden Halbkantone Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden gehörten immer zu den Gewinnern. Luzern, Uri, Schaffhausen und die beiden Halbkantone Ob-und Nidwalden waren in acht von neun Fällen auf der Gewinnerseite.
Zürich war jedes Mal auf der Verliererseite, wie auch der französischsprachige Kanton Jura seit seiner Gründung 1979. Der italienischsprachige Kanton Tessin, Neuenburg, die beiden Halbkantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft waren in acht Fällen auf Seiten der Verlierer.
Lustenberger besteht darauf, dass am bestehenden System nicht gerüttelt werden sollte, auch wenn er den gescheiterten Familienartikel mit ganzem Herzen unterstützt hatte.
Für ihn ist es unerheblich, dass sich die Demografie in den letzten anderthalb Jahrhunderten verändert hat. «Die Grenzen und die Gebiete – die Fläche – sind gleich geblieben. Ein Kanton ist nicht nur seine Bevölkerung. Ein Kanton ist auch das Gebiet und die Kultur. Nein! Da wird nicht gerüttelt.»
Nationaler Zusammenhalt
Doch könnte die Tatsache, dass eine Minderheit den Willen der Mehrheit vereiteln kann, nicht den nationalen Zusammenhalt gefährden? Die Gesellschaft spalte sich sowieso immer weiter auf, sagt Linder.
Die Schere in der Wirtschaft öffne sich immer weiter, mit einerseits traditionellen Berufen wie Bauern und kleinen Unternehmen, die auf dem Land für den Inlandmarkt produzieren, andererseits mit einer Dienstleistungs-Industrie wie Banken und Versicherungen, die global orientiert seien.
«Das schafft neue Mentalitäten und Interessen. Wir haben in nationalen Abstimmungen in den letzten zwanzig Jahren einen immer grösseren Graben zwischen Stadt und Land festgestellt, der das Land teilt», so Linder,. «Es wird immer schwieriger, Ansätze zu finden, die einen echten Fortschritt bringen und die ein gutes soziales Leben sicherstellen.»
Lustenberger betrachtet dies weniger pessimistisch: «Wir müssen diese unterschiedlichen Befindlichkeiten ernst nehmen. Diesen inneren Zusammenhalt der Eidgenossenschaft dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. Aber in der Schweiz befindet sich jeder in einer Minderheit – und keiner in einer Mehrheit.»
Neue Ideen
Wenn den Kantonen derart viel Macht zugestanden werde, könnten die Verlierer von Abstimmungen versuchen, Massnahmen auf kantonaler Ebene durchzubringen. «Das ist der grosse Vorteil des föderalen Systems», sagt Linder.
«Jeder kann leben, wie es ihm gefällt – die ländlichen Kantone mit weniger Familienschutz, die städtischen mit mehr.» Doch während dies auf soziale Themen zutrifft, ist es beispielsweise bei Fragen der Aussenpolitik nicht der Fall.
Seit 1850 hat sich die Bevölkerung in der Schweiz stark verändert. Damals lebten 2’392’740 Personen in der Schweiz, Ende 2010 waren es 7’870’134.
1850 zählte der Halbkanton Appenzell Innerrhoden – der kleinste Schweizer Kanton – 11’720 Personen, was 0,5% der Schweizer Bevölkerung ausmachte. 2010 war die Bevölkerung auf 15’720 Personen angewachsen, machte aber nur noch 0,2% der Gesamtbevölkerung aus.
Ganz anders in Zürich, wo 1850 250’700 Menschen lebten (10,5%). 2010 waren es 1’373’100, was 17,5% entspricht.
Ende 2008 lebte die Hälfte der Schweizer Bevölkerung in den fünf Kantonen Zürich, Bern, Waadt, Aargau und St. Gallen.
Fast zwei Drittel der Bevölkerung leben in städtischen Gebieten.
In den 6 grössten Schweizer Städten leben mehr Menschen als in den 12 kleinsten Kantonen.
(Quelle: Bundesamt für Statistik)
Es wurden bereits zahlreiche Vorschläge gemacht, wie das System für die grossen Kantone fairer gemacht werden könnte, ohne dass die Kleinen ihren Schutz verlieren würden.
Dazu gehören die Vorschläge, eine Umverteilung des Gewichts der Stimmen je nach Grösse der Kantone vorzunehmen, oder den Anteil der Kantone, die für ein Ständemehr nötig sind, von der Hälfte auf zwei Drittel anzuheben.
Nach der Abstimmung vom 3. März haben viele Leserbriefschreiber jene, die eine Änderung des Systems verlangten, als «schlechte Verlierer» bezeichnet.
Lustenberger aber ist anderer Meinung: «Es sind die grossen Kantone, die allenfalls dieses Ständemehr in Frage stellen. Das ist legitim, aber ich halte es für nicht richtig, wenn man es korrigieren würde – auf irgendeine Art und Weise.»
In einem Artikel in den Tageszeitungen Der Bund und Tages-Anzeiger allerdings gab der Politikberater Mark Balsiger von der Kommunikationsagentur Border Crossing zu bedenken, das Ständemehr sei «kein Heiligtum».
Eine lebendige Demokratie zeichne sich «dadurch aus, dass sie immer wieder aufs Neue verhandelt wird. Diese Qualität hat unser Land zum Erfolg geführt».
Jedermann sei sich des Paradoxons bewusst, dieses System zu ändern zu versuchen, fasst Linder zusammen: «Die Städte sind natürlich dafür, doch die kleinen Kantone sind dagegen. Wenn man dieses System ändern will, muss man die Verfassung ändern – und dazu braucht es das Ständemehr, bei dem die kleinen Kantone Nein sagen werden. Daher gibt es keine Lösung.»
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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