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Die Mühe der Südschweiz mit dem freien Personenverkehr

Grenzkontrolle an einem Zollübergang
Autos von Grenzgängerinnen und Grenzgängern stehen am Zollübergang von Chiasso Schlange. © Keystone / Gaetan Bally

Die Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Norditalien haben im Kanton Tessin stark zugenommen. Heute besetzen sie fast jede dritte Arbeitsstelle. Das belastet den lokalen Arbeitsmarkt. Und prägt die Meinung der Einwohnerinnen und Einwohner über die Europäische Union.

«Die Reparaturen werden jetzt von italienischen Sanitären durchgeführt. Das sagen mir die Mieter der Gebäude, in denen wir vorher gearbeitet haben. Ich selber habe vor diesen Gebäuden Lieferwagen mit ausländischen Kennzeichen gesehen.»

Das sagt Daniele Casalini, Inhaber einer Sanitärfirma mit zehn Angestellten in Pregassona bei Lugano. Täglich erlebt er die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf einen problematischen Grenzkanton wie das Tessin.

Kleine Handwerker in Schwierigkeiten

Der Kanton Tessin ist ein Dreieck mit 350’000 Einwohnerinnen und Einwohnern, eingekeilt in der italienischen Region Lombardei. Dort leben mehr als zehn Millionen Menschen. Ein guter Teil der 67’000 im Kanton tätigen Grenzgängerinnen und Grenzgänger stammt aus Italien (28,4% der gesamten Tessiner ArbeitnehmerschaftExterner Link). Sie üben einen ständigen Druck auf den lokalen Arbeitsmarkt aus, besonders in Sektoren wie dem Baugewerbe.

Ausländische Konkurrenten verlangen 30 Euro, vielleicht sogar ohne Rechnung.

Daniele Casalini, Inhaber Sanitärfirma

«Die Reparaturen haben uns geholfen, die Fixkosten zu tragen. Namentlich die rentable Instandhaltung von Immobilien privater Verwaltungen wird uns jetzt nicht mehr aufgetragen», sagt Casalini.

«Jetzt bleiben uns nur noch Aufträge für wichtige Standorte, für 200’000 oder 300’000 Franken. Die sind aber schwieriger zu beschaffen und bringen geringere Gewinnmargen.»

Sicherlich würden viele Unternehmen von jenseits der Grenze korrekt arbeiten, so Casalini. Aber wenn man in Italien lebe, könne man Preise verlangen, bei denen die lokalen Unternehmen, besonders kleine und mittlere Unternehmen, nicht mithalten könnten.

«Ein Arbeiter kostet mich zwischen 38 und 42 Franken pro Stunde. Ausländische Konkurrenten verlangen 30 Euro, vielleicht sogar ohne Rechnung. Andere sahen sich gezwungen, ihr Geschäft an ebendiese italienischen Konkurrenten zu verkaufen, welche die Preise gebrochen hatten.»

Es kommt auch zu Missbrauch

Ganz zu schweigen von den schweren Fällen. Darüber wurde in den letzten Jahren auch in den Zeitungen berichtet. Etwa von Schweizer Unternehmen, die den in der Lombardei und im Piemont lebenden Arbeitnehmenden die Löhne sauber nach dem Gesamtarbeitsvertrag auszahlen. Und danach von ihnen verlangen, ins Büro zu gehen und einen Teil des erhaltenen Lohns in bar zurückzuzahlen.

«Wie können wir unter solchen Bedingungen weitermachen?», fragt der Tessiner Unternehmer. Er sagt, er sei gezwungen gewesen, sich neu zu erfinden. «Wir haben die Preise um 20% gesenkt. Dadurch haben sich die möglichen Einnahmen weiter verringert. Und wir haben 50’000 Werbebroschüren verschickt, um neue Kundschaft zu gewinnen. Das mussten wir tun, obwohl wir schon seit vielen Jahren auf dem Markt sind.»

Um zu überleben, begannen einige Unternehmen, ihre Fühler über den Gotthard Richtung Norden zu strecken. «Seit zwei, drei Jahren haben wir Arbeiten in Luzern, Bern und Lausanne. Wir haben festgestellt, dass unsere Preise auch im Rest des Landes konkurrenzfähig sind. Aber das zwingt uns zu ständiger Bewegung», sagt der Tessiner Sanitär.

Löhne im Baugewerbe unter Druck

Über die Anliegen der einheimischen Unternehmer hinaus fällt die besondere Situation auf dem Arbeitsmarkt auch der «Associazione interprofessionale di controllo» (AIC) auf. Dieses Organ ist für die Kontrolle der entsandten Arbeitnehmenden ausländischer Unternehmen zuständig, die auf den Tessiner Baustellen arbeiten.

«Unsere Kontrollen zeigten, dass mindestens ein Drittel der Unternehmen gegen die in unseren Gesamtarbeitsverträgen (GAV) festgelegten Mindestlöhne verstossen hat», sagt AIC-Büroleiter Bruno Zarro. Klar ist der grosse Anteil auf einen einzigen Wirtschaftszweig beschränkt. Aber er illustriert die Besonderheit des Südschweizer Kantons dennoch gut.

«Ich glaube, das Hauptproblem, mit dem der Handwerkersektor konfrontiert ist, besteht darin, dass in der Schweiz arbeitende ausländische Unternehmen ihre Angestellten weiterhin mit den in ihrem Land geltenden Löhnen bezahlen. Das führt zu unlauterem Wettbewerb», so Zarro.

Und die Instrumente, die zur Bekämpfung dieses Phänomens zur Verfügung stehen, seien nicht immer wirksam. Dazu gehören zum Beispiel die in Bern beschlossenen Flankierenden MassnahmenExterner Link. Mit diesem Paket sollen die negativen Auswirkungen des freien Personenverkehrs aufgefangen werden.

«Mindestens ein Drittel der Unternehmen verstösst gegen festgelegte Mindestlöhne»

Bruno Zarro, Büroleiter AIC

«Die AIC führt eine detaillierte Kontrolle der Lohnzettel durch. Aber es ist schwierig, das korrekte Verhalten ausländischer Arbeitgeber zu überprüfen», sagt Zarro.

In diesem Zusammenhang schliesst der Kontrolleur nicht aus, dass diese Unternehmen in der Praxis «eine Form der Entschädigung für ihre Mitarbeitenden anwenden, die diese vielleicht dazu zwingt, unbezahlte Arbeitstage zu leisten oder Barrückerstattungen zu leisten».

Der Fall Tessin

Südlich der Alpen besteht eine wirtschaftliche und soziale Situation, die nach Meinung vieler Bewohnerinnen und Bewohner im Rest der Eidgenossenschaft oft unverstanden bleibt. Sie spiegelt sich – zumindest teilweise – auch in einer Reihe von Studien wider, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden. Darin wurde versucht, Lohn- und Beschäftigungstrends zu analysieren.

Eine der interessantesten Zahlen, die aus einer Studie hervorgingen: Das Tessin ist der einzige Kanton, in dem in den zwei Jahren nach der Abschaffung des Inländervorrangs – die am 1. Juni 2004 erfolgte – ein Lohnverlust von 1,9% zu verzeichnen war. Während des gleichen Zeitraums nahm das Lohnwachstum auf nationaler Ebene um 0,8% zu. Das ist der Veröffentlichung «Personenfreizügigkeit: Freuden oder Sorgen?»Externer Link des Tessiner Statistikamts (Ustat) zu entnehmen.

Die Sonderrolle des Tessins fällt auch auf, wen man mit den Daten anderer Grenzkantone wie Genf (+5,3%) und Basel-Stadt und Basel-Landschaft (+1,7%) vergleicht. Dort kam es zu Lohnerhöhungen über dem Landesdurchschnitt. Natürlich sind dies zeitlich begrenzte Studien. Die langfristige Entwicklung des Medianlohns im Tessin und in der Schweiz bestätigt jedoch diesen Trend, wie die folgende Grafik zeigt.

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Grenzgängerinnen und Grenzgänger statt Einheimische

Deutlicher ist der Diskurs über die Auswirkungen der bilateralen Abkommen auf die Beschäftigung. Besonders im Hinblick auf den befürchteten Effekt der Ersetzung einheimischer Arbeitnehmender durch Grenzgängerinnen und Grenzgänger. Wie auch bei den Löhnen wechseln sich hier laut der Ustat-Studie positive und negative Auswirkungen ab.

Und es ist schwierig, einen klaren Trend zu erkennen. Denn es handelt sich um einen «stark segmentierten Markt». Einerseits, weil die neuen Arbeitnehmenden von ausserhalb der Schweiz auch in Arbeitsplätze passen, die zuvor von lokalen Arbeitnehmenden besetzt waren. Andererseits tragen die Grenzgängerinnen und Grenzgänger dazu bei, neue Beschäftigungsmöglichkeiten für die Ansässigen zu schaffen.

Auf diesen spezifischen Aspekt versuchte eine vom Institut für Wirtschaftsforschung (IRE) der Universität der italienischsprachigen Schweiz im Jahr 2015 durchgeführte Umfrage eine Antwort zu geben. In der Studie im Auftrag des Tessiner Parlaments ist zu lesen, dass es «keine Anzeichen dafür gibt, dass die Beschäftigung von Grenzgängern das Risiko der Arbeitslosigkeit von Einheimischen erhöht hat» und «kein wirklicher Ersatzeffekt festgestellt werden kann».

Umstrittene Studie

Die Schlussfolgerungen dieser Studie ernteten Kritik, auch aus der Politik. In der IRE-Studie wurde auch festgehalten, dass die von der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) verzeichnete Arbeitslosenquote in der Schweiz von 2002 bis 2015 gestiegen ist. Für das Tessin wies die IAO eine Verschlechterung seit 2010 im Vergleich zum Rest des Landes aus.

Und während der Zustrom von Grenzgängerinnen und Grenzgängern in die Schweiz «die Arbeitslosenquote für die einheimischen Arbeitskräfte um 0,015% gesenkt hat, gibt es im Tessin keinen ähnlich positiven Effekt», heisst es dort.

Das wirkliche Problem, so warnt das IRE, sei daher weniger die Verdrängung der aktiven Erwerbsbevölkerung in die Arbeitslosigkeit, sondern seien vielmehr mögliche Hindernisse für den Eintritt der Einheimischen in den Arbeitsmarkt. Dies würden die niedrige Erwerbstätigenquote (fast zehn Prozentpunkte unter dem Schweizer Durchschnitt) und die besorgniserregende Zahl arbeitsloser Jugendlicher im Südschweizer Kanton belegen.

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass viele Experten es für äusserst kompliziert halten, das Phänomen der Verlagerung von Arbeitskräften auf analytische Weise zu quantifizieren. Deshalb sei es schwierig, Schlussfolgerungen zu ziehen. Auch wenn die Tessinerinnen und Tessiner sehr klare Vorstellungen haben: Bei Eidgenössischen Abstimmungen über die Beziehungen zu Europa steht das Tessin regelmässig an der Spitze der Brüssel-Gegner.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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