Die Pandemie als Schweizer Ausrede, um den Olympischen Spielen fernzubleiben
Die Winterspiele in Peking boykottieren oder an der Eröffnungsfeier teilnehmen? Corona hat dem Bundesrat diese Entscheidung abgenommen. Das passt in das Muster des Schweigens über das grösste Tabuthema in den schweizerisch-chinesischen Beziehungen.
Litauen machte den ersten Schritt: Vor zwei Monaten kündigte es als erstes Land einen diplomatischen Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking an. Litauen erklärte, weder der Präsident noch Minister:innen werden für die Spiele, die am 4. Febraur beginnen, nach China reisen. Die Vereinigten Staaten, Kanada, Dänemark, das Vereinigte Königreich, Australien, der Kosovo und Neuseeland folgten bald darauf und begründeten ihre Entscheidung mit der Menschenrechtslage in China.
Nur neun Tage vor der Eröffnungsfeier sagte auch die Schweizer Regierung ihre Teilnahme ab. Kein Mitglied des Bundesrats werde nach Peking reisen, hiess es in einer PressemitteilungExterner Link. Grund dafür seien die «unsichere Pandemie-Situation» und die Covid-Restriktionen in China, die «substanzielle bilaterale Treffen» verhindern würden. Der Bundesratssprecher stellte an einer Pressekonferenz klar, die Entscheidung sei nicht politisch motiviert.
Obwohl Aktivist:innen und Parlamentarier:innen, die einen diplomatischen Boykott befürwortet haben, erleichtert sind, dass der Bundesrat zuhause bleibt, riecht es für sie nach Opportunismus: Die Pandemie als willkommener Vorwand, um sich nicht zwischen offiziellem Boykott und Teilnahme entscheiden zu müssen.
Fabienne Krebs, Kampagnenkoordinatorin bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), nennt es eine «sehr bewusste Unterlassung», die Menschenrechte nicht zu erwähnen. Sie sagt, «substanzielle bilaterale Treffen» sei ein Codewort für Gespräche über Menschenrechte hinter verschlossenen Türen – ein bevorzugter Ansatz der Schweiz und anderer westlicher Länder, um sensible Themen mit China anzusprechen.
«Zumindest hätten sie das kommunizieren und sicherstellen müssen, dass die Menschenrechtssituation Teil des Grundes sind, weshalb sie nicht hingehen», sagt Krebs. «Es ist dieses Schweigen, das wir kritisieren.»
Die GfbV gehört zu einer Reihe von NGOs und zivilgesellschaftlichen Gruppen, welche die Regierungen aufgefordert haben, die Spiele in Peking auszulassen, um gegen das unerbittliche Vorgehen von Präsident Xi Jinping gegen fundamentale Rechte und Freiheiten zu protestieren. Die Tibeter:innen, so werfen sie vorExterner Link, seien zur Zielscheibe einer verstärkten Überwachung geworden, während in der Provinz Xinjiang Millionen von Uigur:innen in «Umerziehungslagern» festgehalten würden. Die chinesische Regierung hat die Vorwürfe der Verfolgung wiederholt bestritten.
Schweizer «Unterwürfigkeit» gegenüber China
Seit den ersten Aufrufen zu einem diplomatischen Boykott hat die Schweizer Regierung ihre Reaktion sorgfältig abgewogen und sich entschieden, keine Stellung zu beziehen. Sie ist nicht so weit gegangen wie führende Politiker:innen in Frankreich und Luxemburg, die öffentlich erklärt haben, Boykotte seien wirkungslos. Aber der Bundesrat hat auch nie kommuniziert, ob er diese Option in Erwägung zieht. Als Beispiel hätten die USA dienen können: Sie gaben frühzeitig bekannt, dass sie ihre Verbündeten über ein gemeinsames Konzept für die Spiele ab April 2021 konsultieren werden.
Wenn die Schweizer Regierung hingegen zu diesem Thema befragt wurde, versteckte sie sich hinter vagen diplomatischen Ausflüchten.
«Der Sport im Allgemeinen und die Teilnahme an den Olympischen Spielen im Besonderen sollten nicht als Mittel der politischen Meinungsäusserung dienen», schrieb der Bundesrat in seiner Antwort auf Fragen des Parlaments im vergangenen Jahr.
Mitte Januar gab der Bundesrat bekannt, ein Mitglied zu den Spielen entsenden zu wollen. Er warnte jedoch, dass dies von der Entwicklung der Pandemie abhängen würde.
Die Ankündigung, dass nicht die Menschenrechte, sondern Covid die Schweizer zu Hause hält, sei ein Zeichen für die «Unterwürfigkeit» der Regierung gegenüber China, sagt hingegen der Parlamentarier Fabian Molina.
«Anstatt […] hörbar für die Menschenrechte einzutreten, will [die Regierung] es allen recht machen und duckt sich weg», sagt der Sozialdemokrat, der in der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats sitzt.
Weshalb zahlreiche Stimmen in der Schweiz einen Boykott der Winterspiele in Peking forderten, erfahren Sie im Video:
Für Simona Grano, Sinologin an der Universität Zürich, ist die helvetische Zweideutigkeit Teil des Mittelweges, den das Land im Umgang mit einem selbstbewussteren China, dem drittgrössten Handelspartner der Schweiz, einschlägt. Dazu gehört auch die Vermeidung jeglicher Massnahmen, die China verärgern könnten. Peking hat den Bundesrat für eine im März veröffentlichte China-Strategie, welche Menschenrechtsverletzungen im Land kritisierte, scharf gerügt. Seither bemüht sich die Schweizer Regierung, China nicht auf die Zehen zu treten.
Nach der Veröffentlichung der Strategie änderte die Schweiz ihren Kurs und beschloss, der EU und den USA nicht zu folgen, die Sanktionen gegen China wegen der Übergriffe auf die Uigur:innen verhängten – Verbrechen, die von den USA und einigen europäischen Ländern als Völkermord bezeichnet wurden. Auch eine Erklärung der Vereinten Nationen, die den Umgang Chinas mit der muslimischen Minderheit betraf, unterzeichnete die Schweiz nicht.
Als die Länder begannen, einen diplomatischen Boykott anzukündigen, sagte China sie würden «den Preis dafür zahlen.» Was damit konkret gemeint war, blieb offen. In jedem Fall, so Grano, hätten viele dieser Länder bereits angespannte Beziehungen zu China. Australien zum Beispiel wurde von Peking mit Handelsbeschränkungen belegt, weil es eine Untersuchung über die Herkunft von Covid-19 gefordert hatte.
Im Falle der Schweiz könnten erhöhte Spannungen mit China nicht nur Vergeltungsmassnahmen im Handel bedeuten, sondern auch den Verlust von Vorteilen, die auf ihrer Neutralität beruhen. Die Schweiz rühmt sich ihrer Rolle als Gastgeberin hochrangiger Treffen, wie dem zwischen chinesischen und amerikanischen Beamt:innen in Zürich im vergangenen Oktober.
Untergrabung der internationalen Solidarität
Abgesehen von Vergeltungsmassnahmen wollte der Bundesrat wahrscheinlich auch eine persönliche Blamage vermeiden. Ein Bundesrat, der auf der Tribüne applaudiert, während die Kommunistische Partei Chinas ihr internationales Ansehen als Gastgeberin eines der grössten Sportereignisse der Welt ausspielt: Ein solches Bild wäre beim Schweizer Publikum nicht gut angekommen, betonte Krebs. Denn die Vorwürfe gegen die Behörden in Xinjiang sind in den letzten Jahren immer mehr in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gerückt.
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Die Schweiz ist nicht das einzige Land, das sich schwer tut, den richtigen Ansatz für diese Spiele zu finden. Die EU konnte sich im Januar nicht auf eine gemeinsame Position einigen und überliess es den Mitgliedstaaten, individuelle Entscheidungen zu treffen. Die Palette reicht von Boykott bis zur Kritik an der «Politisierung» der Olympischen Spiele. Die schwedischen Staatsoberhäupter haben sich wie die Schweizer auf die Pandemie berufen, um nicht an der Veranstaltung teilzunehmen.
Krebs befürchtet, die Schweiz und andere Länder schaden mit ihrem Alleingang den koordinierten Bemühungen, Chinas Bestreben, internationale Normen zu umgehen, einzuschränken.
Ein diplomatischer Boykott ändere die Situation in Tibet und für die uigurische Minderheit vielleicht nicht sofort, sagte die Aktivistin, aber er wäre ein Zeichen der Solidarität mit diesen Gruppen.
«Wir werden nichts erreichen und nichts ändern, wenn jedes Land seine eigene Kosten-Nutzen-Analyse durchführt», sagt sie. «Kein Land ist stark genug, um sich allein gegen ein China zu stellen, das die internationalen Menschenrechtsstandards untergräbt.»
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