Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Andrej Kurkow: “Die russische Sprache in der Ukraine gehört auch zu den Opfern von Putin”

Andrey Kurkov looking to the right at Geneva Summit for Human Rights and Democracy
SWI swissinfo.ch

Der ukrainische Autor Andrej Kurkow war für einen Menschenrechtsgipfel in Genf. Im Interview mit SWI swissinfo.ch spricht er über die russische Invasion, die Schweiz als ideales Land und die Situation der russischen Sprache in der Ukraine.

Herr Kurkow, im allerersten Eintrag ihres “Tagebuchs einer Invasion”, am 29.12.2021, hoffen Sie, dass die Ukraine den Weg der Schweiz einschlagen wird. Jetzt sitzen wir in der Schweiz, anderthalb Jahre später. Wie sehen Sie das Verhalten der Schweiz in der Zeit dazwischen?

Andrej Kurkow: Ich verstehe, dass die Schweiz traditionell neutral ist. Aber für mich rechtfertigt Neutralität den Umgang mit einem Aggressor nicht. Das Hauptproblem ist, dass die Schweiz anderen Ländern die Weitergabe von in der Schweiz produzierten Waffen in die Ukraine verbietet.

Ohne Waffen und Munition verliert die Ukraine den Krieg. Es gäbe auch mehr Opfer in der Zivilbevölkerung, wenn die ukrainische Armee nicht mehr in der Lage wäre, die Bevölkerung zu verteidigen.

Auf dem Geneva Summit for Human Rights and Democracy sprachen Sie als “Augenzeuge”. Sind Sie seit der russischen Invasion mehr Augenzeuge als Schriftsteller?

Leider kann ich keine Fiktion mehr schreiben. Kein einziges Wort in den letzten 15 Monaten. Ich habe mehrmals angesetzt und bin gescheitert. Ich werde es wieder versuchen. Das einzige Thema, über das ich jetzt schreiben kann, ist der Krieg und das, was den Ukrainer:innen wegen der russischen Aggression widerfährt.

Das ist schade, denn Sie sind ein erfolgreicher Autor surrealistischer Romane mit Übersetzungen in 37 Sprachen. Selbst sprechen Sie elf Sprachen?

Früher schon. Jetzt spreche ich nur noch sechs.

Welche sind das?

Russisch, Ukrainisch, Deutsch, Französisch, Englisch – und ich verstehe Italienisch.

Andrey Kurkov laughing at Geneva Summit for Human Rights and Democracy
Andrej Kurkow, geboren 1961 im heutigen Russland, lebte seit seiner Kindheit in Kiew. Er ist Autor zahlreicher Romane und Drehbücher. Im Tagebuch einer Invasion gibt er seine Erlebnisse und Gedanken als Ukrainer von Ende 2021 bis Anfang Juli 2022 preis. Dafür erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis 2022 der Stadt München. Kurkow gehört zu den ukrainischen Schriftsteller:innen, die ihre Bücher auf Russisch schreiben. SWI swissinfo.ch

Russisch und Ukrainisch sind nun besonders politisiert. Wie ist Ihre Haltung dazu?

Sie wissen ja, dass ich Ukrainer russischer Herkunft bin. Ich schreibe fiktional auf Russisch. Über die Realität schreibe ich auf Russisch, aber auch auf Ukrainisch und Englisch.

Die russische Sprache und die russischsprachige Kultur in der Ukraine gehören auch zu den Opfern von Putin. Weniger, viel weniger Menschen sprechen Russisch, lernen will es niemand mehr. Russischsprachige Schriftsteller:innen in der Ukraine haben es schwer, denn die meisten Buchhandlungen wollen überhaupt keine Bücher auf Russisch verkaufen. Auch jene nicht, die in der Ukraine geschrieben und veröffentlicht wurden.

Das ist eine emotionale Reaktion auf die Invasion, die bis zu einem gewissen Grad auch rational ist. Wenn ich hier in den Strassen von Genf Russisch höre, weiss ich nicht, ob es Russ:innen, Ukrainer:innen oder Belarus:innen sind. Höre ich Ukrainisch, ist klar: Das sind meine Landsleute.

Und Sie selbst sprechen noch Russisch in der Öffentlichkeit?

Bei öffentlichen Veranstaltungen in der Ukraine spreche ich Ukrainisch, persönlich und privat spreche ich Russisch.

Mehr
Schweizer Flagge in bedrohlicher Bergkulisse.

Mehr

Sprengt die Alpen!

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Das Jammern über die Stabilität der Schweiz bewegt seit Generationen. Ist das Land zu eng für gute Kunst?

Mehr Sprengt die Alpen!

Haben Sie daran gedacht, in Ihrer Rede in Genf Ukrainisch zu sprechen, um damit ein Zeichen zu setzen?

Nein, nein. Ich werde Englisch sprechen. Meine Frau ist aus England, meine Kinder sind britische Staatsbürger. Für mich ist Sprache ein Instrument – manchmal ein Instrument der Kultur, manchmal ein Instrument der Politik.

Nach dem Gesetz ist Ukrainisch die einzige offizielle Sprache in der Ukraine. Das ist der Grund, warum ich auf öffentlichen Veranstaltungen in der Ukraine Ukrainisch spreche.

Würden Sie bei öffentlichen Veranstaltungen in der Ukraine Russisch sprechen, wenn das anders wäre?

Nein, das würde ich nicht. Die ukrainische Sprache ist der offensichtlichste Schutz der ukrainischen Identität und der ukrainischen Unabhängigkeit. Russland hat es geschafft, Belarus zu zwingen, zwei Amtssprachen zu haben: Russisch und Belarussisch. Was ist passiert? In Belarus gelten Menschen, die auf der Strasse Weissrussisch sprechen, als extreme Nationalisten und werden belächelt.

Würde es die russische Sprache in der Ukraine befreien, wenn die russische Invasion gestoppt würde?

Wenn man sich an den Posts auf Facebook orientiert, ist Russisch die Sprache des Feindes. Und das, obwohl die Hälfte der ukrainischen Soldat:innen an der Front russischsprachig ist. Doch den meisten russischsprachigen Ukrainer:innen ist klar, wer für den schlechten Ruf ihrer Sprache verantwortlich ist.

Putin drängt die Ukraine dazu, die ukrainische Identität schneller zu vervollkommnen, als es sonst passiert wäre.

Die Soziale Medien sind eine entscheidende Sphäre. Auch während Sie hier in Genf sind, posten Sie über die Entwicklung in der Ukraine, zum Beispiel über Bombardements auf Kiew.

Meine Kinder sind in Kiew, wie die meisten meiner Freund:innen. Ich bin jede Nacht besorgt, denn jede Nacht müssen wir mit Beschuss und Explosionen rechnen. Das ganze Land lebt so, bedroht von Russland, in Todesgefahr.

Aber die ganze Welt weiss das und sieht, wie die Russen ukrainische Zivilist:innen töten und ihr Gebiet besetzen. Ich hoffe, dass dies auch die Entscheidungen der Schweiz beeinflusst. Man kann Mord nicht einfach still bezeugen.

Sie meinen die Schweizer Position zu indirekten Waffenexporten?

Zu humanitären Fragen, zu den Waffen, zu allem. Ich hoffe auch, dass sich die Schweiz am Wiederaufbau der Ukraine beteiligen wird und dem Land hilft, Mitglied Europas zu werden. Die Schweiz ist nicht in der EU, aber sie ist ein wichtiges Land, auch im Finanzsektor.

Andrey Kurkov looking to the right at Geneva Summit for Human Rights and Democracy
SWI swissinfo.ch

In der Schweiz fordern einige linke Politiker:innen die Beschlagnahmung russischer Gelder.

Ich bin kein Spezialist. Ich hoffe nur, dass die Schweizer Banken nicht zu Drehscheiben für russische kriminelle Gelder werden, die zur Bestechung europäischer Institutionen und linksextremer und rechtsextremer politischer Parteien verwendet werden, damit diese die Interessen Russlands vertreten. Das wird wichtig werden.

Aber ich bin sicher, die Schweizer Behörden wissen, was in der Schweiz passiert.

Mehr

Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Benjamin von Wyl

Was brauchen Sie, damit Sie Vertrauen in Institutionen haben können?

Eine Grundlage für Demokratien ist das Vertrauen in Justiz, Politik, Polizei und die Medien. Deshalb befassen wir uns mit dem Thema – und fragen Sie.

133 Kommentare
Diskussion anzeigen

Trotz des Kriegs geht in der Ukraine der Kampf gegen Korruption weiter. Diese Woche wurde der Chef des Obersten Gerichtshofs verhaftet. Was bedeutet es, das zivile Leben in der Ukraine aufrechtzuerhalten?

Nicht nur alle Institutionen funktionieren, sondern auch alles andere. Man kann in Mykolajiw ein neues Auto kaufen, obwohl dort gestern ein Autohaus bombardiert wurde. Der Leiter des Obersten Gerichtshofs ist im Gefängnis und seines Amtes enthoben. In der Ukraine war das Rechtssystem bis vor kurzem sehr korrupt. Diese Verhaftung zeigt, dass der Kampf gegen die Korruption weitergeht. Wie lange es dauert, bis sich die Gesellschaft frei von Korruption nennen kann, weiss ich nicht.

Sie sind bekannt für Ihre kritische Sicht auf die ukrainische Politik. Im “Tagebuch einer Invasion” zeichnen Sie auch ein differenziertes Bild von Präsident Selenski.

Präsident Selenski geniesst grosse Unterstützung. Natürlich wird er auch viel kritisiert, unter anderem von Intellektuellen, denn die Ukraine besteht aus Individuen – nicht aus kollektiven Massen wie Russland. In der Ukraine sind mehr als 400 politische Parteien registriert. In der Ukraine wird nonstop diskutiert, nonstop kritisiert. Der nächste Präsident, die nächste Präsidentin wird das Gleiche erleben. Die Sache ist die: Selenski ist Präsident eines Landes, das sich im Krieg befindet. Und er macht diesen Job gut.

Wir werden sehen, was passiert, wenn der Krieg vorbei ist, und ob er dann Präsident bleibt. Bis heute hat in der Ukraine niemand zwei Amtszeiten geschafft. Das sagt etwas über die Ukraine aus: Man kann keine Diktatur haben, wenn man nicht einmal jemandem zwei komplette Amtszeiten lässt.

Ist diese Wechselstimmung also positiv?

Meistens. Es zeigt auf, dass die Demokratie funktioniert, dass es politische Freiheit gibt, Meinungsfreiheit, und dass niemand für Kritik an den Behörden bestraft wird.

Mehr

Hoffen Sie weiterhin auf eine Stabilität wie jene der Schweiz, wenn der Krieg für die Ukraine vorbei ist?

Das wäre ideal. Aber die Ukraine kann es sich nicht leisten, neutral zu sein wie die Schweiz: Die Ukraine muss Teil der Kraft werden, die das Land in Zukunft verteidigen kann. Aber auf eine Art war die Schweiz für mich immer ein Beispiel für Harmonie: verschiedene Kantone, vier Sprachen, Städte, in denen die Menschen Englisch sprechen. Wegen dieser Neutralität und Harmonie beherbergt sie einen UNO-Sitz und den Hauptsitz des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Die Schweiz ist ein Beispiel für ein ideales Land.

Das ist Sie immer noch?

Ja.

Andrey Kurkov looking to the right at Geneva Summit for Human Rights and Democracy
SWI swissinfo.ch

Editiert von Mark Livingston.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft