Rückkehr der Untoten in der Schweizer Politik
Was erwartet die Schweiz 2019? Wer einen Ausblick wagt, muss zurückschauen. Die Monster liegen im Winterschlaf, aber sie erwachen mit Sicherheit. Vieles war schon da, denn in der Schweiz herrscht Stau. Wie Untote harren die wichtigsten politischen Projekte des Landes ihrer Bearbeitung. Teil 1 unseres Jahresausblicks.
Hier unsere fünf Prognosen:
Wenn das Stimmvolk innerhalb von wenigen Monaten zwei wichtige Reformen abschmettert: Reicht es dann aus, sie zu vermischen und in einem grossen Paket gemeinsam vorzulegen, um sie attraktiver zu machen? Die Antwort darauf gibt es voraussichtlich 2019, wenn das Projekt Steuervorlage und AHV-FinanzierungExterner Link (STAF) an die Urnen kommt.
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Was wollen wir? Und wie schnell?
Im Februar 2018 wurde die Unternehmenssteuer-Reform III abgelehnt, mit der die Regierung und eine Parlamentsmehrheit die Gesetzgebung an die neuen internationalen Normen anpassen und damit schwere Sanktionen vermeiden wollten. Einige Monate später lehnte das Stimmvolk das Projekt Altersvorsorge 2020 ab, mit der Regierung und Parlament das System der sozialen Sicherheit an die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen der Zukunft anpassen wollten.
Von der STAF erhoffen sich Regierung und Parlament, nun die Quadratur des Kreises gefunden zu haben. Die Ziele bleiben gleich: die Unternehmensbesteuerung mit den neuen internationalen Normen in Einklang zu bringen und zumindest mittelfristig die Finanzierung des Sozialversicherungs-Systems sicherzustellen.
Das Paket wird diesmal durch ein Referendum der Jungsektionen der Grünen und der Schweizerischen Volkspartei (SVP) bekämpft. Wenn die 50’000 nötigen Unterschriften zusammenkommen, ist die Abstimmung für den 19. Mai vorgesehen.
Viel Lärm um nichts. So könnte der erste Akt der Revision des CO2-GesetzesExterner Link übertitelt werden, der während der Wintersession im Nationalrat (grosse Parlamentskammer) über die Bühne ging. Mit einem Unterschied zur shakespeareschen Tragikomödie: Angesichts der immer greifbareren Auswirkungen des Klimawandels fehlt aber die Komik.
Der Nationalrat, die erste Parlamentskammer, die sich mit der Umsetzung der im Pariser Klimaabkommen enthaltenen Schweizer Versprechen befasste, diskutierte während Tagen.
Es gab rechte und linke Vorschläge, es wurde darüber diskutiert, wie und wo die Treibhausgas-Emissionen reduziert werden können, zum Beispiel mit einer Besteuerung von Flugtickets oder einer Erhöhung des Benzinpreises. Zum Schluss der Verhandlung stand ein Teil der Ratsmitte auf und verliess den Saal. Applaus blieb aus.
Die grosse Kammer lehnte den Entwurf der Regierung ab. Die Ratsrechte unter der Führung der Schweizerischen Volkspartei (SVP), der wählerstärksten Partei des Landes, wollte kein Projekt unterstützen, das sie für schädlich für die Volkswirtschaft hält. Nicht einmal das rot-grüne Lager unterstützte die Revision, die als nicht ehrgeizig galt, und die in den Parlamentsdebatten weiter verwässert wurde. 2019 wird das Dossier an den Ständerat weitergereicht, die wieder bei null anfangen muss.
Hauptakteurin 2019 wird in diesem Bereich allerdings nicht die Politik sein. Mit dem Beginn der Unterschriftensammlung für die «Gletscher-Initiative», welche ein Ende fossiler Brennstoffe bis 2050 fordert, wird die Stimmbevölkerung die Möglichkeit haben, sich zu äussern. Damit kann das Volk in dieser Frage von einem Komparsen zum Hauptdarsteller werden.
Der Ball liegt derzeit beim Verwaltungsgericht in Bern. Und was immer dieses 2019 entscheidet, es wird den Streit nicht schlichten.
Die Freude darüber, dass der Jurakonflikt beerdigt ist, erwies sich im letzten Jahr als grosse Illusion. Im Juni 2017 hatte eine hauchdünne Mehrheit von 137 Stimmen entschieden, dass die bernjurassische Stadt Moutier (auf Deutsch: Münster) vom Kanton Bern in den Kanton Jura wechseln soll.
Doch dann folgte die grosse Ernüchterung: Bereits am Abstimmungstag sprachen die Anhänger eines Verbleibs beim Kanton Bern von Unstimmigkeiten in Wählerlisten. So sollen einige Befürworter eines Kantonswechsels kurzfristig nach Moutier gezogen und danach gleich wieder weggezogen sein.
Ganze 17 Monate dauerte eine Untersuchung, bis der Kanton Bern Anfang November 2018 die Abstimmung wegen diverser Mängel annullierte. Daraufhin brachte der Gemeinderat von Moutier den Entscheid vor das bernische Verwaltungsgericht. Wann von dort ein Entscheid kommt, ist nicht absehbar. Wohl aber die Folge: Die Hitze im Jura steigt an.
Weil verschiedene Einsprachen hängig sind, ist eine baldige Wiederholung des Urnengangs utopisch. Und ein Ende des Rechtswegs könnte erst in Strassburg erreicht werden. Damit steht dem Jurakonflikt ein weiteres Jahr bevor, wohl eines von beachtlicher Lebendigkeit.
Wegen der explodierenden Gesundheitskosten steigen die Prämien mit einer Regelmässigkeit, auf die man sich verlassen kann wie auf eine Schweizer Uhr. Jeweils Ende September sind Schweizerinnen und Schweizer nur auf Eines gespannt: Nicht ob die Prämien steigen werden, sondern um wie viel.
Gründe für die steigenden KostenExterner Link gibt es viele: Der medizinische Fortschritt ist erfreulich, führt aber zu immer teureren Medikamenten, Operationen und Behandlungen. Bereits 2011 kommentierte die Schweizerische ÄrztezeitungExterner Link: «Wenn die moderne Medizin weiterhin so grossartige Fortschritte macht, werden wir bald alle alt, krank und pleite sein.»
Weitere Gründe sind die Alterung der Bevölkerung, die Zuwanderung, die Zunahme chronischer Krankheiten sowie eine sehr hohe Spital- und Ärztedichte in der Schweiz. Zudem bestehen Fehlanreize und Ineffizienzen im schweizerischen Gesundheitswesen. Und nicht zuletzt haben Schweizerinnen und Schweizer hohe Ansprüche und sind nicht bereit, bei der Grundversicherung Abstriche zu machen.
Vier Volksinitiativen zur Eindämmung der Explosion der Gesundheitskosten oder zur Senkung der Krankenkassenprämien wurden angekündigt oder sind bereits im Stadium der Unterschriftensammlung.
Immerhin ein Monster aus der Vergangenheit, das die Schweiz lange umgetrieben hat, bewegt sich 2019 in Richtung Grab: Am 20. Dezember wird das Atomkraftwerk Mühleberg, 15 Kilometer von der Hauptstadt Bern entfernt, definitiv abgeschaltet. Das Kraftwerk ist seit 1972 in Betrieb und eines der fünf Kernkraftwerke der Schweiz. Es liefert rund fünf Prozent des in der Schweiz verbrauchten Stroms.
Wenn die Brennstäbe erst einmal abgekühlt und neutralisiert sind, werden sie in ein Zwischenlager transportiert. Dann kann die Phase der Demontage der Anlage beginnen, die bis 2030 abgeschlossen sein soll. Gesamtkosten des Rückbaus: 927 Millionen Franken für die Stilllegung und 1,43 Milliarden Franken für die Entsorgung radioaktiver Abfälle.
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