Die Schweiz im Strudel der Geschichte
Viele Staaten, auch die Schweiz, mussten sich gegenüber einer veränderten Welt neu organisieren. Dabei helfen der Schweiz ihre Besonderheiten – und sind ihr zugleich ein Hindernis.
Sechs Monate sind es heute. Am 24. Februar startete Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Überfall eröffnete der Welt ein neues Kapitel – sie scheint sich schneller zu drehen seither. Es ging zunächst um Krieg und Frieden, dann auch um Getreide, jetzt um Energie, Inflation, Waffen und den Wiederaufbau.
Sie lesen den Newsletter von swissinfo.ch zu Schweizer Perspektiven auf den russischen Krieg gegen die Ukraine. Diesmal blicken wir zurück und analysieren, wie und wohin sich die Schweiz in diesem halben Jahr bewegt hat – und wo sie besonders herausgefordert bleibt.
«Die Schweiz hat leider ihren Status eines neutralen Staats verloren», sagte ein Sprecher des russischen Aussenministeriums vor zwei Wochen. Sie habe die «illegalen Sanktionen des Westens übernommen.» Sie könne deshalb weder als Vermittlerin noch als Vertreterin zwischen Russland und der Ukraine agieren, fügte er an. Hier unsere Meldung dazu:
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Heute in der Schweiz
Die Worte trafen das Schweizer Selbstbild im Zentrum. Gute Dienste, Vermittlung zwischen Konfliktparteien, dem Multilateralismus eine Heimat bieten: Das gehörte immer zum Selbstverständnis der Schweizer Aussenpolitik. So hat die Schweiz auch die erste Wiederaufbau-Konferenz für die Ukraine organisiert, wie wir hier berichtet haben:
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Denis Schmyhal: «Die Ukraine-Konferenz gibt uns Hoffnung»
Und nun muss der Depositar-Staat der Genfer Konventionen das Feld anderen Playern mit weniger Erfahrung überlassen: Recep Tayyip Erdogan aus der Türkei, oder Viktor Lukaschenko aus Weissrussland – weil nur sie Putin genehm sind.
Und vielleicht ist dies erst der Anfang: Für unseren Analysten Daniel Warner stellt sich die Frage, «ob Neutralität, Achtung des humanitären Völkerrechts und Multilateralismus nach dem Angriff auf die Ukraine überhaupt noch möglich sind.» Hier seine Analyse:
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Lebewohl Schweizer Neutralität!
In einer historischen Perspektive relativiert sich jedoch die aktuelle Schweizer Positionierung auf der Seite des Westens. Stefanie Walter, Professorin für Internationale Beziehungen und Politische Ökonomie an der Universität Zürich, sagt: «Im Kalten Krieg beispielsweise war die Schweiz implizit klar auf der Seite des Westens. Und auch in Sachen Menschenrechte hat sie eine Position.» Unsere umfassende Artikelkollektion zum Wandel der Schweizer Neutralität finden Sie hier:
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Die Neutralität der Schweiz – wohin des Weges?
Geografisch eng eingebunden, aber doch nicht richtig dabei: So hat sich das Land in Europa positioniert. So verhielt sie sich bei den Sanktionen gegen Russland, welche die Schweiz eher reaktiv als proaktiv vollzog. Mitgerissen im Strudel der Geschichte war untätiges Aussitzen für das Alpenland plötzlich keine Option mehr. Hier unser Bericht dazu:
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Russland-Sanktionen: Hoher Druck auf die Schweiz
Sehen Sie dazu auch das Video unseres Satirikers Karpi , der die ernste Angelegenheit verblüffend unterhaltsam erklärt (englisch):
Halb dabei, halb draussen: So verhält sich die Schweiz auch mit der Energie. Europa bereitet sich mit drastischen Plänen darauf vor, dass Gas und Strom im Winter knapp werden. Die Schweiz hingegen zögert noch.
Sie befindet sich in einem Energie-Trilemma, schreibt unsere Autorin Olivia Chang. Es besteht aus dem Dreieck um Energiesicherheit, Nachhaltigkeit und Unabhängigkeit, einer «unmöglichen Energie-Trinität», wie der Schweizer Energie-Forscher Philipp Thaler, sagt. «Letztlich hängt die Sicherung der Energieversorgung in der Schweiz von der Zusammenarbeit mit Europa ab», schreibt Autorin Chang.
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Was Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine für die Schweizer Energiepolitik bedeutet
Zur Integration und Solidarität entschlossen zeigte sich die Schweiz hingegen von Beginn weg mit den Kriegsvertriebenen aus der Ukraine. Jetzt deuten Statistiken darauf hin, dass Geflüchtete vermehrt in ihr bekriegtes Land zurückkehren. Das ist oft Ausdruck grosser Verzweiflung. Es seien Menschen, die der Meinung seien, sie hätten nichts zu verlieren, sagt Anna Lysenko unserer Redaktorin Pauline Turuban. Lysenko ist Vorsitzende von Free Ukraine, einer Organisation, die Geflüchteten dabei hilft, sich in der Schweiz einzuleben.
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«In der Schweiz war ich in Sicherheit, aber ich dachte nur an die Ukraine»
Auch unsere Mitarbeiterin Gaby Ochsenbein hat bereits im April eine ukrainische Mutter mit ihrer Tochter bei sich aufgenommen: Viktoriia und Polina. Sie beschreibt in einer Serie, wie es den beiden ergeht. Nun berichtet Mutter Viktoriia der Autorin über ihren Mann, der in der Ukraine kämpft: Er sei kriegsmüde und verliere die Hoffnung auf ein baldiges Ende dieses «so sinnlosen» Krieges.
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Viktoriia und Polina im Wechselbad der Gefühle
Zunächst hatte auch Viktoriia noch die Hoffnung, dass dieser Krieg bald enden würde. Aber danach sieht es nicht aus. «Das ist ernüchternd und macht sie wütend», beobachtet die Schweizer Gastgeberin. Umso wichtiger bleibt Solidarität mit den Menschen dieses angegriffenen Lands, aber auch mit der Ukraine.
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