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«Die Stimme der Schweiz ist nötiger denn je»

Das Flüchtlingslager von Dadaab in Kenia: Hundertausende sind vor dem Bürgerkrieg und der Hungersnot in Somalia hierher geflüchtet. Keystone

Der UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, Antonio Guterres, verbirgt seine Sorge über die prekäre Lage der weltweit vertriebenen Menschen nicht. Er ermahnt Europa und die Schweiz an ihre Aufgabe, Flüchtlinge aufzunehmen und zu unterstützen.

Das Horn von Afrika, die arabischen Länder, die Elfenbeinküste, Mali: Antonio Guterres hat in den letzten Monaten alle diese Schauplätze besucht.

Die Zunahme von Krisen und Konflikten hat 2011 grosse Flüchtlingsströme ausgelöst. Und die Situation dürfte sich in den kommenden Jahren kaum beruhigen. Zählte man vor 60 Jahren noch 2,1 Millionen Flüchtlinge, so sind es heute gegen 44 Millionen Menschen, die im Exil leben müssen.

Im Rahmen der Jahrestagung der humanitären Hilfe der Schweiz, die am 23. März in Basel stattfand, zog der Hochkommissar der Vereinten Nationen Bilanz über die brennenden Dossiers und plädierte dafür, dass die Schweiz aktiv zum Schutz der Flüchtlinge auf der Welt beitrage.

swissinfo.ch: Wie beurteilen Sie das Verhalten der europäischen Staaten angesichts des Flüchtlingsstroms des arabischen Frühlings?

Antonio Guterres: Beim arabischen Frühling geht es nicht nur um Flüchtlinge, sondern in erster Linie um einen beispiellosen Wandel und um die Perspektive, in autoritären Ländern eine demokratische Alternative zu entwickeln. Europa und die westliche Welt müssen diese Staaten unterstützen, sei es Tunesien oder Ägypten und vielleicht bald auch Libyen, damit sich dort demokratische Regimes stabilisieren und festigen können.

Gleichzeitig muss Europa seiner Verantwortung nachkommen. Es ist sicherlich nötig, die Aufnahmekapazität und den Schutz der Flüchtlinge in den Ländern an der südlichen Mittelmeerküste zu erhöhen. Europa muss aber dennoch ein Kontinent für Asylsuchende bleiben.

Ich erinnere daran, dass 80 Prozent aller Flüchtlinge von Entwicklungsländern aufgenommen werden. Nur 2 Prozent der 900’000 Personen, die aus Libyen geflüchtet sind, fanden Zuflucht in Europa. Es sind vor allem die Nachbarländer, insbesondere Tunesien, die sie aufgenommen haben, was einer ausserordentlichen Solidarität gleichkommt.

swissinfo.ch: Was kann das UNO-Flüchtlings-Hochkommissariat (UNHCR) im Moment in Syrien ausrichten?

A.G.: Wir unterstützen über 40’000 syrische Staatsangehörige, die in die Türkei, nach Libanon oder Jordanien geflohen sind. Zusammen mit dem syrischen Roten Halbmond führen wir zudem eine grosse Aufnahme-Operation für Iraker in Syrien durch. Denn Syrien war immer ein sehr grosszügiges Land, wenn es um die Aufnahme externer Flüchtlinge ging.

Wir sind aber auch sehr beunruhigt über andere Krisen, die sich zur Zeit stellen: Mali, Jemen, Somalia oder Sudan, um nur einige zu nennen. Die Zahl der Flüchtlinge in den Entwicklungsländern hat sich im vergangenen Jahr dramatisch erhöht.

Und während sich immer neue Krisen entwickeln, verschwinden die bisherigen nicht: So hat sich die Lage in Irak, Afghanistan oder in der Demokratischen Republik Kongo noch nicht normalisiert. Die Vertreibungen betreffen immer mehr Menschen für immer längere Zeitspannen.

Die Tatsache, dass die Konflikte sich hinziehen schränkt die Möglichkeit einer Rückkehr stark ein. Sieben Millionen Flüchtlinge haben ihre Heimat vor über fünf Jahren verlassen. Die Lösung dieser humanitären Krisen ist politisch, und das UNHCR ist in dieser Hinsicht leider machtlos.

swissinfo.ch: Was macht Ihnen sonst noch zu schaffen?

A.G.: In einer zuerst bipolaren und dann unipolaren Welt waren die Regeln relativ klar. Heute ist die Unberechenbarkeit die Regel. Die Schwierigkeit, die Krisen zu verhindern, ist sehr komplex geworden.

Wir leben in einer gefährlichen Welt, in der die Krisen zunehmen. Die Vertreibung der Menschen ist oft auch an andere Faktoren gekoppelt, etwa an den Klimawandel, das Bevölkerungs-Wachstum, die unsichere Nahrungsmittelversorgung oder an die Wasserknappheit.

Zur Komplexität der Konfliktherde hinzu kommt eine weitere Herausforderung: Der Spielraum im humanitären Bereich wird immer enger. Eine grosse Zahl von Akteuren besetzt die Konfliktzonen, und viele unter ihnen respektieren die humanitären Prinzipien nicht. Das humanitäre Personal wird zunehmend zur Zielscheibe: Die Mitarbeiter werden bedroht, eingeschüchtert, entführt oder ermordet.

swissinfo.ch: Was tun angesichts dieser steigenden Zahl von Konfliktherden?

A.G.: Wir brauchen mehr finanzielle Mittel, aber auch mehr Engagement der Staaten in der Entwicklungszusammenarbeit. Leider ist die internationale Gemeinschaft eher fähig, auf Krisen zu reagieren als diese zu verhindern.

Die Prävention muss verstärkt werden, und die entwickelten Länder müssen entschlossen auftreten, um die Lage der Flüchtlinge zu stabilisieren.

swissinfo.ch: Was erwarten Sie von der Schweiz?

A.G.: Die Schweiz ist nicht nur einer der wichtigsten Beitragszahler des UNHCR, sie ist auch aktiv präsent vor Ort. Angesichts ihrer humanitären Tradition und ihrer Geschichte nimmt die Schweiz eine sehr wichtige Rolle ein beim Schutz der Flüchtlinge. In Bezug auf die Probleme, die in gewissen Regionen bestehen, muss die Schweiz ihre fundamentalen Prinzipien beim Schutz der Flüchtlinge verteidigen.

Die humanitäre Hilfe darf kein Spielball der Aussenpolitik sein, sie muss echte Unparteilichkeit garantieren. In diesem Sinn ist die humanitäre Stimme der Schweiz nötiger denn je.

Ich möchte unterstreichen, dass die Zusammenarbeit zwischen dem UNO-Flüchtlingshilfswerk und der Schweiz vorbildlich ist. Wir wünschen uns, dass die Schweiz ihre Unterstützung unserer Aktivitäten vor Ort verstärkt, überall in der Welt, vor allem aber in jenen Nachbarländern, die zur Zeit eine Krise grösseren Ausmasses durchmachen.

swissinfo.ch: In der Schweiz selber ist die Asylpolitik immer wieder ein Thema. Haben Sie diesbezüglich eine Botschaft an die Schweizer Regierung?

A.G.: Die Schweiz muss ihre Tradition als Aufnahmeland beibehalten und ein Pfeiler im internationalen System zum Schutz von Flüchtlingen bleiben. Die Schweiz hat eine solide Asylpolitik, aber es gibt natürlich auch Aspekte, wo wir uns Fortschritte wünschen.

Die Verantwortung muss geteilt werden, und die entwickelten Staaten müssen effiziente Asylverfahren zur Verfügung stellen, die all jenen Schutz garantiert, die Hilfe brauchen.

Es existiert zur Zeit noch keine ganzheitliche europäische Asylpolitik. Wenn ein Afghane zum Beispiel in Europa Asyl beantragt, stehen seine Chancen, anerkannt zu werden, zwischen 8 und 91 Prozent – je nach Staat, in welchem er sein Gesuch deponiert.

Das UNHCR stellt die Grenzkontrollen der Staaten nicht in Frage. Aber beim Management der Grenzen darf der Schutz der Flüchtlinge nicht vergessen gehen.

Weltweit gab es Ende 2010 gemäss dem Jahresbericht des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) 43,7 Millionen Vertriebene.

80% dieser Flüchtlinge lebten in Entwicklungsländern.

15,4 Millionen von ihnen waren in ein anderes Land geflüchtet.

27 Millionen waren Binnenflüchtlinge, wurden also im eigenen Land vertrieben.

Das UNHCR hat auch 850’000 Asylsuchende registriert, davon 20% in Südafrika.

Bei etwas mehr als der Hälfte aller Flüchtlinge handelt es sich um Kinder unter 18 Jahren.

Die grösste Flüchtlingsgruppe bilden die Afghanen (3 Millionen). Die meisten von ihnen haben ihre Heimat vor vielen Jahren verlassen.

In Europa lebten Ende 2010 1,6 Millionen Flüchtlinge, 40’700 weniger als im Jahr zuvor.

4 Millionen waren es in Asien, 2,1 Millionen in Afrika und gegen 7 Millionen im Nahen Osten und in Nordafrika. In Amerika lebten 800’000 Flüchtlinge.

Für das in Genf ansässige UNHCR arbeiten weltweit 7685 Personen. Das Jahresbudget 2012 beträgt 3,59 Milliarden Dollars, das ist doppelt so viel wie vor 5 Jahren.

2011 ist in den Industrieländern die Zahl der Asylgesuche gegenüber dem Vorjahr um 20% gestiegen. Insgesamt wurden im letzten Jahr in 44 Ländern 441’300 Asylgesuche eingereicht.

Am stärksten war der Anstieg wegen des arabischen Frühlings in den acht südeuropäischen Ländern. Dort betrug er 87%.

Die USA nahmen am meisten Asylsuchende auf (74’000 Gesuche), vor Frankreich (51’000).

Die Schweiz liegt mit 19’400 Anträgen auf dem 9. Rang.

Antonio Guterres  wurde am 30. April 1949 in Lissabon geboren.

Nach einem Physik- und Elektroingenieur-Studium trat er der sozialistischen Partei Portugals bei und widmete sich ganz der Politik.

1995 wurde er von Staatspräsident Mario Soares zum Premierminister ernannt. Er übte dieses Amt bis 2002 aus.

2004, als er als aussichtsreichster sozialistischer Kandidat für die Präsidentenwahl von 2006 galt, wurde er von Kofi Annan zum UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge ernannt.

2005 übernahm er diese Funktion von Ruud Lubbers. Guterres ist der 10. Hochkommissar für Flüchtlinge der Geschichte.

(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)

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