«Die SVP findet kein Rezept, um in der Deutschschweiz Mehrheitswahlen zu gewinnen»
Der konservative Trend, der bei den Wahlen am 22. Oktober im Nationalrat zu beobachten war, hat sich im Ständerat nicht fortgesetzt. Politikexperte Lukas Golder, Co-Leiter des Forschungsinstituts gfs.bern, analysiert die neuen Kräfteverhältnisse im Schweizer Parlament in der nächsten Legislaturperiode.
SWI swissinfo.ch: Die Schweizer Parlamentswahlen sind nun vorbei, alle 246 Sitze sind besetzt. Wer sind die Gewinnerinnen und wer die Verlierer?
Lukas Golder: Die grosse Gewinnerin der eidgenössischen Parlamentswahlen ist die Partei Die Mitte, die in beiden Kammern des Parlaments zugelegt hat. Insbesondere hat sie ihre Leaderposition in der kleinen Kammer ausgebaut. Sie ist nun in der Lage, zwischen den beiden Kammern als Moderatorin aufzutreten – eine absolut wichtige Rolle.
Die Mitte wird jedoch beweisen müssen, dass sie tatsächlich in der Lage ist, Mehrheiten zu finden. Im Wahlkampf hatte sie genau das versprochen, indem sie sich gegen die Polarisierung positionierte und für die Suche nach Lösungen eintrat.
Umgekehrt sind die Grünen in beiden Kammern die Verlierer. Die Partei musste herbe Verluste bei den Wähler:innenanteilen hinnehmen und fiel unter die 10-Prozent-Marke. Betreffend Sitzen ist die Niederlage weniger eklatant, denn die Partei ist immer noch stärker als vor der grünen Welle 2019.
Die Nichtwiederwahl der Genfer Ständerätin Lisa Mazzone ist symbolhaft für die Niederlage der Umweltpartei. Die Partei hat nicht nur die nötige Anzahl an Abgeordneten verloren, um in der kleinen Kammer eine Fraktion zu bilden, sie hat auch eine junge Persönlichkeit verloren, die für die Grünen eine echte Hoffnung und ein Zugpferd darstellte.
Wie erklären Sie sich den Erfolg der Mitte-Partei?
Es gibt verschiedene Faktoren. Es ist nicht nur der neue Name der Partei (früher: Christlichdemokratische Volkspartei CVP, Anm. d. Red.). Dies war vor allem politisches Marketing.
Die Fusion mit der Bürgerlich-Demokratischen Partei BDP hat zwar nicht zu einem enormen Zuwachs an Wähler:innenanteil geführt. Aber die Partei hat damit bewiesen, dass sie in der Lage ist, Veränderungen vorzunehmen.
Durch die Betonung des Themas Familie ist es dem Zentrum gelungen, eine neue politische Elite zu rekrutieren: starke Frauen, die in der Lage sind, Mehrheitswahlen zu gewinnen, wie die neugewählte Ständerätin Marianne Binder-Keller aus dem Kanton Aargau.
Mitte-Präsident Gerhard Pfister hat ebenfalls eine Schlüsselrolle beim Erfolg gespielt, indem er die Partei neu positioniert hat. Mit seiner Initiative zur Einführung einer Kostenbremse im Gesundheitswesen zielte er auch auf das wichtigste Thema für diese eidgenössischen Wahlen 2023 ab.
Die FDP (Freisinnig-Demokratische Partei.Die Liberalen) konnte ihre Position zwar halten, hat aber mehr Federn lassen müssen als erwartet. Hat sich das Bündnis mit der Schweizerischen Volkspartei (SVP) negativ ausgewirkt?
Das Bündnis zwischen der FDP und der SVP hat seine Schwächen offenbart, insbesondere im Kanton Zürich, wo die Rechte ihren Sitz im Ständerat verloren hat. Diese Wahlen haben gezeigt, dass sich die FDP etwas mehr in der Mitte und auch klarer positionieren muss.
Wie die anderen traditionellen Parteien mit einer älteren Wähler:innenschaft muss auch die FDP den Nachwuchs mobilisieren. Es ist ihr jedoch nicht gelungen, sich selbst zu erneuern, indem sie neue Ideen einbringt. Dadurch besteht die Gefahr, dass sie als Nachhut der SVP angesehen wird.
Trotz ihres grossen Sieges in der grossen Kammer gelang der rechtskonservativen SVP im Ständerat kein Durchbruch. Vielmehr zählt sie in der kleinen Kammer weiterhin zu den Minderheitsparteien. Warum ist das so?
Die SVP findet kein Rezept, um in der Deutschschweiz Mehrheitswahlen zu gewinnen. Dies liegt unter anderem daran, dass die Rechtskonservativen nicht mit den Mitte-Rechts-Parteien zusammenarbeiten können. Die Wähler:innenschaft scheint den polarisierenden Stil der SVP im Nationalrat zu schätzen. Sie ist aber nicht davon überzeugt, dass dies auch bei der Vertretung eines Kantons funktionieren kann.
Es ist auch zu beachten, dass die SVP vor allem in den ländlichen Regionen eine grosse Partei bleibt. Nun haben wir aber zunehmend einen urbanisierten, digitalisierten und globalisierten Lebensstil, nicht nur in den grossen Städten, sondern auch in den kleineren Agglomerationen. In diesem Milieu ist die konservative Rechte nicht so erfolgreich.
Wie wird sich das Debakel für die Grünen bei den Wahlen auswirken?
Langfristig gesehen wollen die Wählerinnen und Wähler weiterhin Lösungen für den Kampf gegen den Klimawandel. Der Trend zeigt, dass die Grünen, wie auch die Grünliberalen, noch nie zwei Wahlen hintereinander verloren haben. Wenn sie Verluste erlitten haben, sind sie immer stärker als zuvor zurückgekommen. Das sollte auch so bleiben, denn das Klima wird in den nächsten 20 Jahren ein grundlegendes Thema sein.
Die Grünen werden sich jedoch neu formieren, ihre Kampagnen besser organisieren und ihre Positionierung überdenken müssen. Die Spaltung zwischen den Grünen und den Grünliberalen ist ein Handicap für die Umweltschützenden. Würde man die Wählerstärke der beiden Parteien zusammenzählen, wäre ihre Stärke gross genug, um einen Sitz im Bundesrat beanspruchen zu können.
Trotz eines leichten Zuwachses gelingt es der Sozialdemokratischen Partei (SP) nicht, die Verluste der Grünen zu kompensieren. Die Linke wird also im Parlament geschwächt und die Rechte gestärkt. Wird diese neue Konstellation die politischen Kräfteverhältnisse grundlegend verändern?
Nein, diese Wahlen ändern nichts an den Machtverhältnissen. Die Linke bleibt in der Minderheit, wie sie es in der Schweiz schon immer war. Um Lösungen zu finden, muss sie sich mit anderen politischen Gruppierungen verbünden.
Zwischen 2011 und 2019 hat sie oft sozial-liberale Lösungen mit der FDP gefunden. In den letzten Jahren ist sie eher ein Bündnis mit der Mitte eingegangen, und das wird wahrscheinlich auch in der nächsten Legislaturperiode so bleiben.
Wird es im Parlament zu mehr Blockaden kommen, wenn der Nationalrat stärker nach rechts und der Ständerat mehr nach links gerückt sind?
Das glaube ich nicht. Um Blockaden zu vermeiden, braucht man gemeinsame Ideen, und die gibt es. Ich sehe zum Beispiel gemeinsame Ideen zwischen der Rechten und der Mitte im Bereich der Finanzpolitik. Es gibt auch die Möglichkeit, Kompromisse zwischen der Linken und der Rechten zu finden, indem die SVP isoliert wird. Dies könnte in der Gesundheitspolitik oder in der Europafrage der Fall sein.
Selbst in Bezug auf die Klimapolitik sehe ich keine Gefahr einer Blockade, sondern eher die Möglichkeit, neue Allianzen zu schmieden. Denn die meisten Parteien sind sich der Risiken bewusst, welche die globale Erwärmung mit sich bringen.
Ist das weiter nach rechts gerückte Parlament eine gute oder schlechte Nachricht für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer?
Ich denke, es ist eine gute Nachricht, wenn man versucht, Lösungen zu finden. Es gibt auch mögliche neue Allianzen im Bereich der Digitalpolitik. Dies ist ein wichtiger Bereich für die Fünfte Schweiz, die sich unter anderem für die Einführung von E-Voting einsetzt.
Ich habe die Hoffnung, dass das Parlament und der Bundesrat versuchen werden, neue Kompromisse zu finden, die aber schlussendlich noch vom Volk abgesegnet werden müssen.
Die Schlussresultate für die beiden Kammern des Schweizer Parlaments:
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Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi
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