«Die Wahlniederlage der Islamisten ist eine Premiere»
Die Niederlage der islamistischen Bewegung Ennahdha gegenüber der säkularen Partei Nidaa Tounes bei den Parlamentswahlen in Tunesien sei ein "politisches Erdbeben", sagt Hamadi Redissi. Aber die Sieger hätten viel zu tun, so der Politologe im Interview.
Die Sanktionen an der Urne sind eindeutig. Die islamistische Bewegung Ennahdha, die nach der Revolution vom 14. Januar 2011 bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung in Tunesien triumphiert hatten, ist bei den Parlamentswahlen vom 26. Oktober von der säkularen Partei Nidaa Tounes geschlagen worden.
Mit dieser Wahl, der Ende November die Präsidentschaftswahlen folgen werden, ist das Parlament für die nächsten fünf Jahre bestimmt worden. Nun steht die Bildung einer neuen, mehrjährigen Regierung bevor.
Die Endresultate
Nidaa Tounes hat 85 von 217 Sitzen errungen. Die Bewegung gibt sich eine sozialdemokratische Orientierung. Sie wird von ihrem Präsidenten Béji Ca!id Essebsi (87) als «moderne Alternative zum Islamismus» bezeichnet. Ennahdha kam auf 69 Sitze.
Die Ennahdha-Partei, die von Dezember 2011 bis Januar 2014 an der Macht war, hat für ihr Unvermögen gebüsst, die Probleme zu lösen, mit denen Tunesien zu kämpfen hat: Wirtschaft, Sicherheit, Verschmutzung. «Sie konnte ihre Versprechen nicht halten», sagt Hamadi Redissi, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Tunis. Der engagierte Intellektuelle, Autor mehrerer kritischer Bücher über Islamismus, hat die Präsidentschaft der tunesischen «Beobachtungsstelle des Übergangs zur Demokratie» aufgegeben, nachdem er offiziell Nidaa Tounes unterstützt hatte. Redissi hat swissinfo.ch in seinem Büro in La Marsa empfangen, einem kleinstädtischen Vorort von Tunis.
swissinfo.ch: Was ist Ihr Fazit aus diesen Wahlen?
Hamadi Redissi: Die Tatsache, dass Enahdha nicht mehr die stärkste Partei Tunesiens ist, entspricht einem politischen Erdbeben. Der politische Islam war weltweit seit jeher entweder an der Macht, oder in der Opposition, oder bewaffnet, oder im Gefängnis. Es ist das erste Mal, dass der Islamismus an der Urne besiegt wurde. In der Türkei ist die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung von Präsident Recep Tayyip Erdogan, N.d.R.) nie bezwungen worden.
swissinfo.ch: Was sind die Gründe für diese Niederlage?
H.R.: Ennahdha hat die Wahlen von 2011 dank ihrer Verankerung in ärmeren Bezirken und im Süden Tunesiens gewonnen, die seit 30 oder 40 Jahren besteht, aber auch dank der Unterstützung von Wählern, die nicht zu ihrer historischen Basis gehören. Dieser externe Kreis hat sich jetzt abgewendet und Nidaa Tounes gewählt.
swissinfo.ch: Weshalb?
H.R.: Ennahdha hat seine sozialen und wirtschaftlichen Versprechen nicht eingehalten. Die Partei hatte angekündigt, 400’000 neue Arbeitsplätze pro Jahr zu schaffen. Tatsächlich hat die Arbeitslosigkeit aber zugenommen. Ausserdem hat sie versucht, Tunesien zu islamisieren, obwohl sie zuvor erklärt hatte, sie sei eine moderate Partei. Die Schlacht ist aber auch auf moralischer Ebene verloren worden. Ennahdha ist infolge zahlreicher Affären in den Augen vieler Bürger eine korrupte Macht mit einer Klientelpolitik, wie der Fall des Parteimitglieds Moncef Ben Salem, des Ministers für Hochschulbildung, zeigt. Er hatte sich selber zum Universitätsprofessor befördert.
swissinfo.ch: Trotzdem bleibt Ennahdha die zweitstärkste politische Kraft im Land, weit vor den anderen Parteien.
H.R.: Es ist kein Zusammenbruch. Ennahdha hat Ressourcen und ist immer noch gut verankert in Tunesien. Aber psychologisch ist es ein harter Schlag.
swissinfo.ch: Weshalb hat die Partei Nidaa Tounes so viele Wähler überzeugt?
H.R.: Weil sie eine Synthese darstellt zwischen einerseits den ehemaligen und neuen und andererseits zwischen Gewerkschaftern, Linken, Unabhängigen, Unternehmern. Nidaa Tounes ist eine Allzweck-Partei, die sich aus einer populären Elite zusammensetzt. Die Bürger wollen kompetente Politiker ins Parlament schicken, die fähig sind, die Probleme zu lösen.
Der Präsident von Nidaa Tounes und Kandidat für das Präsidentschaftsamt hat den Status eines Chefs. Er hat mit Bourguiba (Habib Bourguiba war der erste Präsident Tunesiens nach der Unabhängigkeit von 1956, N.d.R.), gearbeitet, und er war nach der Revolution von 2011 Premierminister, um die ersten Wahlen ordnungsgemäss durchzuführen. Seither beruft er sich auf das Erbe Bourguibas, um das Land in die Zukunft zu führen.
swissinfo.ch: Einige Beobachter sind der Meinung, dass die Tunesier eher gegen Ennahdha als für Nidaa Tounes gewählt haben. Teilen Sie diese Meinung?
H.R.: Das ist immer so. Auch Ennahdha hatte 2011 von der Wut gegenüber den Repräsentanten des früheren Regimes profitiert. Und das nächste Mal werden die Islamisten zwangsläufig von einem Misstrauensvotum gegenüber Nidaa Tounes begünstigt werden.
swissinfo.ch: Gehen Sie davon aus, dass es Nidaa Tounes nicht gelingen wird, Tunesien auf den rechten Weg zu bringen?
H.R.: Das wird sehr schwierig werden. Das Programm ist seriös und ambitiös, aber die Zwänge sind struktureller und konjunktureller Natur.
swissinfo.ch: Nidaa Tounes hat nicht genügend Sitze, um allein zu regieren. Mit wem kann sich die Partei zusammentun?
H.R.: Mit niemandem. Mit Ennahdha kann sie keine Allianz eingehen, ohne ihre Wahlversprechen zu verraten. Und die Divergenzen mit den anderen Parteien sind beträchtlich.
swissinfo.ch: Wie also wird die Partei zu regieren versuchen?
H.R.: Das wird sehr schwierig sein. Man muss das Wahlsystem ändern. Es ist sehr schlecht. Das Proporzwahlsystem begünstigt eine Verzettelung der Stimmen und eine Vervielfachung der Parteien. Das System eignet sich für Länder mit einer gefestigten demokratischen Kultur. Ideal wäre eine Majorzwahl in zwei Wahlgängen.
swissinfo.ch: Vor den Wahlen war oft die Rede von einer Rückkehr der Anhänger des Regimes des gestürzten Diktators Ben Ali. Was hat es auf sich damit?
H.R.: Sie wurden plattgewalzt. Es gibt vier oder fünf Parteien, die sie repräsentieren. Aber das Volk hat sie nicht gewählt. Das Wichtigste ist, dass Al Moubadara, die Partei von Kamel Morjane (der Präsidentschaftskandidat hat lange in Genf bei den internationalen Organisationen gearbeitet, N.d.R.), Ex-Minister unter Ben Ali, nur 4 Sitze sichern konnte. 2011 hatte die Partei 5 Sitze geholt. Sie ist auf der Stelle getreten.
swissinfo.ch: Rund 3,1 Millionen Tunesier haben an den Wahlen teilgenommen. 2011 waren es 4,3 Millionen (von 11 Millionen Einwohnern). Weshalb dieser Einbruch?
H.R.: Es fehlt an Vertrauen in die politische Klasse. Aber man kann es schon als Erfolg bezeichnen, dass die Wählenden an die Urne gegangen sind. Das war überhaupt nicht selbstverständlich.
swissinfo.ch: Es scheint, dass die Jungen die Wahlen gemieden haben. Ist das ein Grund zur Besorgnis?
H.R.: Die Jungen verfügen über andere politische Ausdrucksformen, die ohne Wahlen demokratisch sind: Zum Beispiel über die sozialen Netzwerke oder Happenings. Man muss sie in Betracht ziehen.
swissinfo.ch: Der Wahlverlauf wurde von internationalen Beobachtern abgesegnet. Ist der Übergang zu einer Demokratie gelungen?
H.R.: Nein! Die nächsten Parlamentswahlen in Tunesien stehen noch zur Bewährung. Wir haben das Hin- und Rückspiel absolviert. Der Final hat noch nicht stattgefunden. Wenn Tunesien fünf Jahre lang standhält, ist der Übergang gelungen.
Wahlen von «ausserordentlicher Qualität»
Der gute Wahlverlauf der tunesischen Parlamentswahlen wurde durchwegs begrüsst, auch von Experten und Mitgliedern von schweizerischen Institutionen. Die Beobachter-Delegation der Parlamentsversammlung des Europarats, angeführt vom Zürcher SP-Nationalrat Andreas Gross, hat Tunesien für die «ausserordentliche Qualität des Wahlverfahrens» gratuliert. «Eine entscheidende Etappe bei der Transition nach der Revolution» sei zu Ende gegangen, sagte Gross in der Schlusserklärung in Tunis. «Die Wahlen waren frei, transparent und nicht ausgrenzend.»
Das 10-köpfige Team der europäischen Organisation sei «beeindruckt», sagte der Chef der Mission. Trotzdem hob er drei Verbesserungsmöglichkeiten hervor: das Niveau der Mediendebatte erhöhen, um die Bürger besser zu informieren; das Gesetz über die Finanzierung der Wahlkampagne überprüfen, um den Parteien zu ermöglichen, ihre Ausgaben zu erhöhen, aber gleichzeitig die Transparenz über die Herkunft der Fonds sicherzustellen; und die Anstrengungen fortsetzen, um die jungen Menschen, die Frauen und die Angehörigen unterer Schichten zu ermuntern, an den Wahlen teilzunehmen.
«Diese Wahlen sind ein Erfolg», sagte Souhaib Khayati, der Verantwortliche für das nationale Programm für Transition bei der Schweizer Botschaft in Tunis. «Es ist enorm, wenn man die Situation mit jener des benachbarten Ägyptens vergleicht, wo die Transition zum Stillstand kam. Die Tunesier sind erleichtert.»
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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