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Dienstpflicht für Frauen nach norwegischer Art

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In der Schweiz beträgt der Frauenanteil in der Armee nur 0,9 %. In Norwegen ist der Anteil der Frauen in den Streitkräften seit der Einführung der geschlechtsneutralen Wehrpflicht im Jahr 2015 um fünf Prozentpunkte auf 15 % gestiegen. Keystone / Yoshiko Kusano

Um die Armee zu stärken, prüft das Verteidigungsdepartement (VBS) die Möglichkeit einer obligatorischen Dienstpflicht für Frauen. Als Inspirationsquelle für das geschlechterneutrale Wehrpflichtmodell diente Norwegen. Was kann die Schweiz von dem skandinavischen Land lernen?

Seit Jahren weiss man in der Schweizer Armee, dass es grundlegender Veränderungen bedarf, um den drohenden Personalmangel abzuwenden. Doch die Idee, die Wehrpflicht auf Frauen auszuweiten, war nie eine besonders populäre politische Lösung – bis das norwegische Parlament 2013 mit überwältigender Mehrheit für die Einführung einer geschlechtsneutralen Wehrpflicht stimmte. Die zugrunde liegende Argumentation findet seither auch in der Schweiz Anklang.

«Wir sind ein kleines Land und deshalb auf die besten Leute angewiesen», sagt Danel Hammer, Beraterin für Vielfalt und Gleichstellung bei den norwegischen StreitkräftenExterner Link. «Wir können es nicht riskieren, unsere Rekrutierung auf nur ein Geschlecht zu beschränken.»

Das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS prüftExterner Link momentan die Vorteile einer «bedarfsorientierten Dienstpflicht» nach norwegischem Vorbild, bei der Frauen zusammen mit Männern einberufen werden sollen. Bis 2024 hat das Departement Zeit, dem Bundesrat einen detaillierten Bericht zu dieser und zwei weiteren Optionen zur Aufstockung der Armee vorzulegen. Alles mit der Absicht das anvisierte Ziel von 140’000 Armeeangehörigen am Ende dieses Jahrzehnts nicht zu verfehlen.

Die Diskussion um eine Dienstpflicht für Frauen wird neuerdings auch vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine geführt, der in der Schweiz, wie auch in anderen Ländern, Fragen zu militärischer Stärke und Einsatzbereitschaft aufgeworfen hat. Geprägt wird die Diskussion auch durch die öffentliche Debatte zur Gleichstellung der Geschlechter, die in den letzten Jahren durch Ereignisse wie den Frauenstreik im Jahr 2019 Auftrieb erhielt.

Die Erfahrungen in Norwegen zeigen, dass es mehr als nur eine gesetzliche Verpflichtung braucht, um Frauen ins Militär zu bringen – und sie auch längerfristig dort halten zu können.

Erweiterung des Talent-Pools

Wie Hammer betont, legt das skandinavische Land seinen Fokus darauf, nur die besten Kandidat:innen zu rekrutieren. Dementsprechend streng ist das Auswahlverfahren im Rahmen des 2015 eingeführten geschlechtsneutralen Systems. Alle 19-Jährigen müssen einen ausführlichen Fragebogen der Streitkräfte ausfüllen; die geeignetsten Kandidat:innen werden zu Tests und Vorstellungsgesprächen eingeladen.

Aus den rund 60’000 Jugendlichen werden jedes Jahr etwa 10’000 für den bis zu 19 Monaten dauernden Dienst ausgewählt. Nach der Grundausbildung werden die meisten von ihnen zur norwegischen Heimwehr (Heimevernet) versetzt und können jedes Jahr zu einer einwöchigen Ausbildung einberufen werden. Schon rein zahlenmässig ist die Wehrpflicht ein Erfolg: Der Anteil der weiblichen Wehrpflichtigen ist nach Angaben der Streitkräfte von 17 % im Jahr 2015 auf 32 % im Jahr 2021 gestiegen.

Die Tatsache, dass nur ein Bruchteil der Wehrpflichtigen einberufen wird, hat den Militärdienst zu einem hart umkämpften und begehrten Beruf gemacht, sagt Nina Hellum, Forscherin am Norwegischen Institut für Verteidigungsforschung (FFI). «Wenn etwas exklusiv ist, wollen es die Menschen», sagt sie. «Der Ruf des Militärs ist in Norwegen recht gut, so dass es auch im Lebenslauf gerne gesehen wird.»

Das Schweizer Modell, das momentan geprüft wird, ist ebenfalls selektiver Natur, da die Armee nur diejenigen Leute rekrutieren würde, die sie auch braucht. Unklar ist jedoch, wie motiviert junge Menschen sind, in einem erweiterten Dienstpflicht-Modell zu dienen. Während der Militärdienst früher als unverzichtbarer Karriereschritt galt, ist es seit der Einführung des Zivildienstes in den 1990er Jahren fast schon zur Mode geworden, dass junge Schweizer Männer den Militärdienst ablehnen. Von denjenigen, die sich heute verpflichten, Militärdienst zu leisten, erscheinen viele nicht zu den AuffrischungskursenExterner Link, da ihnen Karriere oder Studium wichtiger sind. Ihnen drohen Arrest, Bussen und Geldstrafen.

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Erst seit 1996 besteht in der Schweiz die Möglichkeit, einen Zivildienst zu leisten; zuvor landeten Dienstverweigerer zu Tausenden im Gefängnis.

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Für die Schweizer Armee dürfte es noch schwieriger sein, Frauen zu überzeugen. Diese können sich freiwillig zur Armee melden, sie machen aktuell nur 0,9 % der Armeeangehörigen aus. Das Verteidigungsdepartement vermutet, dass nur wenige in die Armee eintreten, weil sie nicht wissen, was ihnen die Institution zu bieten hat. Alle 18-jährigen Männer sind verpflichtet, an einem Informationstag der Armee teilzunehmen. Für Frauen ist die Teilnahme freiwillig. Deshalb prüft das VBS jetzt die Möglichkeit, diesen Tag auch für Frauen verpflichtend zu machen.

Hellum glaubt, dass dies ein guter Weg sein könnte, um ihr Interesse zu wecken. Vor der Wehrpflicht, so Hellum, hätte eine durchschnittliche Frau in Norwegen nicht viel über das Militär als Karriereoption nachgedacht. Wenn man sich körperlichen und geistigen Tests unterzieht, an Vorstellungsgesprächen teilnimmt und mehr Informationen direkt von den Streitkräften erhält, kann das eine aufschlussreiche Erfahrung sein. «Ihnen zu zeigen, dass es beim Militär viele Möglichkeiten gibt, hat den Prozentsatz [der weiblichen Rekruten] etwas erhöht», sagt sie. «Man kann zum Beispiel Köchin oder Krankenschwester werden oder in der Logistik arbeiten.»

Eine Frage der Gleichberechtigung

Die Einberufung von Frauen funktioniert in Norwegen auch deshalb, weil sie den Wertvorstellungen im Land entspricht. Wie in anderen Teilen Skandinaviens wird die Gleichstellung der Geschlechter gefördert. Die Parlamentsabstimmung zur Ausweitung der Wehrpflicht auf Frauen fand in derselben Woche statt, in der Norwegen 2013 das 100-jährige Bestehen des Frauenwahlrechts feierte.

Die öffentliche Zustimmung zum Entwurf ist gross: 78 % der Bevölkerung stimmten im Jahr 2021 für die Beibehaltung des neuen Wehrpflichtmodells. «In den nordischen Ländern konnte man der Öffentlichkeit die Umstellung auf eine geschlechtsneutrale Wehrpflicht leicht schmackhaft machen», sagt Sanna Strand, Forschungsstipendiatin am Österreichischen Institut für Internationale Politik, die sich auf militärische Rekrutierung spezialisiert hat. Ihr Heimatland Schweden hat 2017 ein ähnliches Wehrpflichtmodell wie Norwegen eingeführt. «Aber das ist nicht in allen Kontexten und in allen Ländern gegeben», fügt sie hinzu.

In der Schweiz braucht es für die Einführung der Wehrpflicht für Frauen eine Verfassungsänderung, der die Stimmbürger:innen zustimmen müssen. Gemäss einer StudieExterner Link des Centre for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich ist die Unterstützung für eine Wehrpflicht für Männer und Frauen seit 2015 um 14 Prozentpunkte gestiegen. 2021 lag sie bei 67 %. Das CSS vermutet, dass die wachsende Zustimmung auf eine verstärkte öffentliche Debatte zur Geschlechterfrage und eine wachsende Zahl von Frauen im Sicherheitssektor zurückzuführen ist. So wurde in der Schweiz 2019 mit Viola Amherd zum ersten Mal eine Frau Verteidigungsministerin. Ihre Priorität ist es, mehr Frauen für das Militär zu rekrutieren. Amherd strebt einen Frauenanteil von 10 % in 10 Jahren an.

Alle wehrfähigen Schweizer Männer müssenExterner Link im Alter von etwa 19 bis 25 Jahren den Militärdienst antreten und regelmässig Auffrischungskurse besuchen. Aber niemand wird gezwungen, gegen seinen Willen zu dienen. Wehrdienstverweigerer können sich alternativ für den Zivildienst entscheiden, den sie in Einrichtungen wie Krankenhäusern oder Pflegeheimen leisten. Wehrdienstuntaugliche werden dem Zivilschutz zugeteilt. Frauen ihrerseits haben seit 1995 die Möglichkeit, freiwillig Militärdienst zu leisten. Seit 2004 stehen ihnen alle Funktionen in der Armee offen.

Nach dem Modell der «bedarfsorientierten Dienstpflicht» rekrutiert die Armee das Personal sowohl für die Armee als auch für den Zivilschutz nach Bedarf.

Das VBS prüft derzeit zwei weitere Optionen zur Aufstockung der Armee. Eine Option sieht die Fusion von Zivilschutz und Zivildienst zu einer neuen Organisation vor. Die andere Option will Frauen dazu verpflichten, an einem Informationstag von Armee und Zivilschutz teilzunehmen. Beide dieser Optionen erfordern eine Verfassungsänderung.

Die Bundesrätin unterstützte Anfang des Jahres einen Antrag im Parlament, den Informationstag der Armee für Frauen obligatorisch zu machen. Für sie sei dies vor dem Hintergrund einer permanenten Diskussion um Gleichstellung und Gleichbehandlung der Geschlechter ein erster Schritt. Ihr Departement hat verschiedene Massnahmen ergriffen, um mehr weibliche Rekrut:innen zu gewinnen, darunter die Einrichtung einer Fachstelle, die sich mit Geschlechterfragen befasst.

Doch aus all dem lässt sich nicht schliessen, dass das Land bereit ist, eine geschlechtsneutrale Wehrpflicht zu akzeptieren. Selbst Amherd versicherte dem Parlament, dass die Verpflichtung von Frauen zur Teilnahme an einem Informationstag nicht mit einer Dienstpflicht für Frauen gleichzusetzen sei. In einer Umfrage, die für einen Anfang des Jahres veröffentlichten Bericht des VBSExterner Link zur Aufstockung der Armee durchgeführt wurde, erklärten einige Teilnehmer:innen, dass es wahrscheinlich zu früh sei, die Wehrpflicht auf Frauen auszuweiten, da die Gleichstellung in anderen Bereichen der Gesellschaft, z. B. am Arbeitsplatz und bei der Kinderbetreuung, noch nicht erreicht worden sei.

Frauenverbände befürchten auch, dass die Teilnahme an den regelmässigen Auffrischungskursen – die derzeit jeweils drei Wochen dauern – einen grösseren Karrierenachteil für Frauen mit sich bringen würde. Mütter haben aufgrund der Aufteilung des Elternurlaubs bereits eine längere Abwesenheit vom Arbeitsplatz als die Väter. Sie erhalten 14 Wochen Mutterschaftsurlaub, Väter zwei Wochen. In Norwegen können sich frischgebackene Eltern einen Urlaub von insgesamt 48 Wochen teilen.

Rekrutierung und Bindung

Eine Änderung des Wehrsystems bietet noch keine Garantie dafür, dass sich mehr Frauen für eine Laufbahn in der Armee entscheiden. Der Anteil der Frauen in militärischen Positionen innerhalb der norwegischen Streitkräfte lag 2021 bei 15 % – gegenüber 10 % im Jahr 2015. In den höheren Rängen sind gerade einmal 11 % der Offiziere Frauen.

«Ein Gesetz über eine geschlechtsneutrale Wehrpflicht führt nicht automatisch zu einer geschlechtergerechten Truppe, weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht», gibt Strand zu bedenken. Hammer, die Gender-Beraterin, räumt ein, dass in einigen Bereichen nur langsam Fortschritte erzielt werden: «Wir glauben, dass die relativ geringe Vertretung von Frauen in einigen Bereichen des Militärs der Motivation von Frauen, in den Streitkräften bleiben zu wollen, abträglich ist. Von der Wehrpflicht bis zum Fach- oder Offiziersrang – die Rekrutierung unabhängig vom Geschlecht hat Vorrang.»

Die Streitkräfte arbeiten auch an der Verbesserung der Bedingungen für Frauen. Uniformen und Kasernen werden angepasst, Soldat:innen mit Familie werden besser unterstützt und mit gemischten Unterkünfte soll die Integration gefördert werden. So sei beispielsweise die kostenlose Bereitstellung von Tampons und anderen Hygieneartikeln für Soldatinnen im Einsatz ein «starkes Signal», sagt Hammer.

Doch das Militär muss auch die Arbeitszufriedenheit im Auge behalten. Obwohl die norwegischen Streitkräfte eine Lohngleichheitspolitik verfolgen, verlassen mehr Frauen als Männer den Dienst. In einer Umfrage aus dem Jahr 2020 gaben beide Geschlechter ähnliche Gründe für diese Entscheidung an, z. B. ein Studium oder einen neuen Job, sagt Kari Roren Strand, Forscherin am FFI.

«Sie waren oft unzufrieden mit ihrer Karriere oder ihren zukünftigen Karrieremöglichkeiten in der Organisation», meint sie. «Die Frauen waren etwas unzufriedener mit ihrem Vorgesetzten und hatten eher genug von den Streitkräften.» Nur wenige Frauen (3 %) gaben sexuelle Belästigung oder Mobbing als Gründe für ihr Ausscheiden aus dem Dienst an, obwohl eine andere Umfrage aus dem Jahr 2020 zeigt, dass 40 % der weiblichen Wehrpflichtigen berichteten, in den letzten 12 Monaten eine Form von Sexismus erlebt zu haben.

Trotz aller Fortschritte bei der Gleichstellung geben sowohl in Norwegen als auch in Schweden immer noch mehr Männer als Frauen an, dass sie motiviert sind, zum Militär zu gehen. Sanna Strand vermutet, dass dies auf bestimmte verfestigte gesellschaftliche Erwartungen zurückzuführen ist. «Es hat enorme Auswirkungen [auf die Entscheidungsfindung], ob junge Menschen sich als Soldat:in sehen können oder nicht», sagt sie. «Und Soldat:in ist etwas, was immer noch stark männlich konnotiert ist.»

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