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Ein digitales Zuhause für die Menschheit

Jovan Kurbalija

Der frühere UNO-Beamte Jovan Kurbalija kennt sich mit der Schnittstelle zwischen Politik und Digitalisierung bestens aus. Er fordert eine Online-Plattform, die den Umgang mit neuen Technologien erleichtert.

Vor 75 Jahren schufen die Menschen die Vereinten Nationen, um weltweit Frieden und Menschenrechte zu fördern und den Grundstein für Fortschritt und Entwicklung zu legen. Es war ein notwendiger Schritt hin zu einer stabileren und sichereren Welt. Heute stehen wir vor neuen Fragen, welche die Urväter der UNO-Charta kaum voraussehen konnten.

Das digitale Zeitalter hat immense Veränderungen bewirkt und uns vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Dazu zählen Cyber-Sicherheit, der Datenschutz oder Künstliche Intelligenz (KI). Um ihnen zu begegnen, benötigen wir ein digitales «Zuhause» – einen Raum, in dem Staaten, Bürger und Unternehmen kooperieren, um politische Fragen anzugehen und sicherzustellen, dass neue Technologien den Menschen auch wirklich dienen. 

Das Layout dieser digitalen Heimstätte ist im UNO-Bericht «Age of Digital Interdependence» vom UNO-Gremium für digitale Kooperation des Generalsekretärs skizziert worden. Es ist Teil der «Roadmap for Digital Cooperation». Die Plattform, welche auf dem Internet Governance Forum (IGF) der UNO basiert, soll Kooperationen vereinfachen, Förderinstrumente anbieten und politische Prozesse bewirken und beaufsichtigen. Der UN-Generalsekretär ist der Inhaber der «Genehmigung» für dieses digitale Zuhause gemäss Artikel 72 der so genannten Tunis-Agenda, welche 2005 am Weltgipfel zur Informationsgesellschaft erarbeitet wurde.

Wie also sollte dieses Zuhause konkret aussehen? Was gehört in den Bauplan? Und wer soll Zugang haben?

Offen und transparent

Wichtig ist erstens, dass die Türen für alle Menschen offenstehen, welche von digitalen Entwicklungen und Problemen betroffen sind. Zusätzlich zu Regierungen, Unternehmen und Zivilgesellschaft sollten insbesondere auch Jugendliche, Unternehmer, Religionsgemeinschaften und aufstrebende Akteure wie Online-Spieler oder Internet-Influencer eingeladen werden.

Obwohl viele globale Foren den Anspruch haben, für alle zugänglich zu sein, ermöglichen nur wenige eine wirksame Teilnahme. Zum Beispiel ist es kleineren Akteuren in Entwicklungsländern oft nicht möglich, Hunderte von komplexen Themen wie Datenschutz oder Cyber-Kriminalität zu verfolgen. Doch die Türen im neuen Zuhause müssen allen offenstehen. Dass ein solcher Trend zu einfacherem Zugang bei der UNO an Bedeutung gewinnt, zeigten jüngst die Beratungen über Cybernormen in den Offenen Arbeitsgruppe der UNO (OWEG).

Zweitens sollte das digitale Zuhause, nebst einer grossen Tür, auch über grosse Fenster verfügen. Die Prozesse sollten also transparent und verständlich sein. Bürokratische Sprache und Technik-Jargon müssen daher vereinfacht und übersetzt werden, so dass alle verstehen, wie sich Entscheide zur Digitalität auf unsere Lebensweise auswirken. Unvermeidliche Kompromisse, etwa betreffend Sicherheit und Privatsphäre, müssen ebenfalls sorgfältig erklärt werden. Die Medien werden eine entscheidende Rolle dabei spielen, die Kluft zwischen Technologiekreisen und der Öffentlichkeit zu verringern.

Offene Türen und durchsichtige Fenster reichen aber noch nicht aus. Das «Digital Home» muss deshalb, und das ist der dritte Punkt, von allen für alle gebaut werden. So wie einst viele Staaten Baumaterial wie Steine und Glas oder Einrichtungsgegenstände wie Möbel für das UNO-Hauptquartier in New York beisteuerten, so sollte auch das digitale Zuhause von möglichst vielen Menschen entworfen und entwickelt werden.

Technologieunternehmen wie Zoom, Microsoft und Tencent sowie Softwareentwickler und Designer spielen eine entscheidende Rolle. Online-Meeting-Plattformen sollten zu digitalen öffentlichen Gütern werden, welche von der gesamten Menschheit entwickelt, genutzt und geteilt werden. Daten und Aufzeichnungen von Treffen sollten einen besonderen Immunitätsschutz geniessen, so wie das auch bei Verfahren in «physischen» UNO-Räumlichkeiten der Fall ist. Die Bemühungen um den Aufbau einer solchen Open-Source-Plattform haben bereits mit der Initiative «Meet 2030» begonnen, an der nebst internationalen Organisationen auch Technologieentwickler und Wissenschaftler beteiligt sind.

Alle Perspektiven sind wichtig

Viertens sollte das digitale Zuhause mit einem «Gewächshaus» ausgestattet werden, also einen Raum, in dem neue Gesetze und Richtlinien in einer evidenzbasierten, breit abgestützten und transparenten Weise entwickelt werden können. Anschliessend sollten diese den Regierungen, internationalen Organisationen und Unternehmen zur Annahme und Umsetzung vorgelegt werden. Kostspielige und zeitaufwändige Prozesse könnten so verhindert werden. 

Fünftens sollte ein digitales Zuhause über eine vielfältige und reichhaltige «Bibliothek» verfügen. Damit soll ein multidisziplinärer Ansatz in einem breiten Spektrum von Politik- und Berufsfeldern gefördert werden, um sicherzustellen, dass alle Standpunkte berücksichtigt werden und Potenziale ausgeschöpft werden. Zum Beispiel kann der Datenschutz oder KI nicht nur aus einer technischen Perspektive angegangen werden, sondern muss auch unter wirtschaftlichen, menschenrechtlichen oder sicherheitspolitischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Ein spezieller Bereich dieser Bibliothek sollte digitalen öffentlichen Gütern, Open-Source-Anwendungen, gemeinsam genutzten Daten und gemeinsamen KI-Entwicklungen gewidmet sein. 

Sechstens sollte das digitale Heim über eine Werkstatt verfügen, in der Kapazitäten aufgebaut und bewährte Verfahren ausgetauscht werden können. Verschiedene Interessengruppen müssen unterstützt werden, damit sie den vollen Nutzen aus der Digitalisierung ziehen können. Vor allem kleine Staaten und Entwicklungsländer dürfen dabei nicht zurückgelassen werden. Ihre Beteiligung muss Hand in Hand gehen mit ihrer Befähigung zur Entwicklung wichtiger Strategien, die ihren spezifischen sozialen und kulturellen Kontext widerspiegeln. 

Schliesslich sollte ein digitales Zuhause über eine «Feuerstelle» verfügen, an der die Akteure die Auswirkungen aufkommender Technologien von KI bis Quantencomputer antizipieren können. Dies wäre ein Raum für Brainstorming zu Lösungen für zukünftige Probleme, mit besonderem Fokus auf digitale Entwicklungen und Rechte zukünftiger Generationen.

Grenzenlose Zusammenarbeit

Angesichts dessen, dass sich die Welt aktuell mit Fragen der digitalen Politik auseinandersetzt und Online-Plattformen intensiver nutzt, stehen die Zeichen für ein «Digital Home» immer besser. Cyber-Sicherheit, E-Commerce, Datenschutz und KI stehen ganz oben auf der politischen Agenda, und parallel dazu verlagern sich viele diplomatische Aktivitäten online, so wie das bei der 75. UNO-Generalversammlung der Fall war. Um all diese Bereiche miteinander zu verbinden, ist mehr Zusammenarbeit notwendig. Die UNO wurde gegründet, um die internationale Zusammenarbeit angesichts monumentaler Herausforderungen zu erleichtern.

75 Jahre später befindet sich die Welt in einer ähnlichen Lage: Sie wird komplexer und digitaler, Probleme werden vielschichtiger und kennen keine Grenzen. Das stellt sowohl den Einzelnen als auch die Gesellschaft als Ganzes vor grosse Herausforderungen. Wir benötigen eine Plattform, welche die digitale Zusammenarbeit über nationale, organisatorische und berufliche Grenzen hinweg fördert. Der 75. Jahrestag der UNO ist der richtige Zeitpunkt, um den Grundstein für ein digitales Zuhause zu legen, auf das künftige Generationen stolz sein können.

Der gebürtige Serbe Jovan Kurbalija ist ehemaliger Co-Direktor des UNO-Gremiums für digitale Kooperation. Kurbalija ist Gründer der DiploFoundationExterner Link, einer Stiftung, welche die Auswirkungen der Digitalisierung auf Diplomatie und Politik untersucht, und leitet die Geneva Internet PlatformExterner Link.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

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