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Die Geschichte der Schweiz als eine Geschichte der Ausgrenzung – tatsächlich?

Demokratische Bewegung: Sieg der Demokratie über die Bürokratie. Karikatur in "Der Baselbieter" von 1865. zVg

Wenn ein verdienter linker Politiker ein Buch über die Geschichte der Schweiz schreibt, ist alles möglich. Der Zuger Alt Nationalrat Josef Lang hat es getan. "Im historischen Teil finde ich es originell, im Gegenwartsbezug aber parteiisch und schwer verdaulich", urteilt Politologe Claude Longchamp, der es für uns gelesen hat.

Buchautor Josef Lang. swissinfo.ch

Die Geschichte der Demokratie in der Schweiz ist in erster Linie eine Verfassungs- und Institutionengeschichte.

Bereits im Spätmittelalter entwickelten sich mit dem Kommunalismus Formen der republikanischen Selbstverwaltung. Mit der Gründung des Bundesstaats 1848 gelang in der heutigen Schweiz der Durchbruch zum Rechtsstaat elementarer Gewaltenteilung. 

1874 schliesslich kamen mit der ersten Totalrevision der Bundesverfassung erste Volksrechte dazu. Das markierte den Übergang von der rein repräsentativen zur halbdirekten Demokratie. Diese Eckwerte prägten auch die Schweizer Geschichtsschreibung.

Die Dialektik von Partizipation und Ausgrenzung

Historiker Jo Lang will mit seinem jüngst erschienen Buch «Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart»Externer Link eine Alternative zur vorherrschenden Geschichtsschreibung aufzeigen. Für ihn sind die sozialen Bewegungen die entscheidenden Treiber der Schweizer Demokratisierung.

Schon in der Einleitung gibt sich der Autor als Dialektiker zu erkennen. Seine Darstellung beginnt mit dem Spannungsbogen zwischen Partizipation einerseits und Abgrenzungen andererseits. Denn im Ancien Régime gestalteten städtische Minderheiten von Männern mit Herkunft die Politik weitgehend alleine. Diese ungleichen Verhältnisse haben sich zwar seither geändert, sind aber nie ganz verschwunden. So lautet das Motto des Buches.

Typisch hierfür: Bei der Einführung des Wahlrechts für erwachsene Männer 1848 gehörte die Schweiz zu den weltweiten Trendsettern. Beim Frauenwahlrecht (1971) war man dagegen ziemlich einsame Nachzüglerin, zumindest in Europa. Heute wiederholt sich das beim Ausländerstimmrecht, das national nicht gilt, einzig von gewissen Kantonen und Gemeinden gewährt wird.

«Die direkte Demokratie lässt zu, dass eine Mehrheit die Menschenrechte, beispielsweise die Religionsfreiheit, verletzt und sie erschwert die politische Integration der grossen Anzahl zugewanderter Personen, sogar von deren Kinder.» Jo Lang

Gemäss Lang hat das seine Gründe: «Die direkte Demokratie lässt zu, dass eine Mehrheit die Menschenrechte, beispielsweise die Religionsfreiheit, verletzt und sie erschwert die politische Integration der grossen Anzahl zugewanderter Personen, sogar von deren Kinder.»

Die demokratische Bewegung Zürichs als Modell

Das neue Geschichtsbuch startet fulminant mit der besten Zeit der Schweizer Demokratie. Lang datiert den grossen Sprung nach vorne zwischen 1861 und 1874. Er endet mit der ersten Verfassungsrevision im jungen Bundesstaat, der damals weltweit progressivsten. Langs Bilanz: «So viel demokratischer Fortschritt war nie zuvor und nie mehr danach.» 

Überholt wurde das Musterland der Demokratie erst 1893, als sich Neuseeland zum allgemeinen Erwachsenenrecht bei Wahlen und Abstimmungen entschied.

Volksversammlung im Kanton Zürich am 15. Dezember 1867. Die demokratische Opposition im Kanton veranstaltet an diesem Tag grosse Volkskundgebungen gegen die liberale Regierung und die Herrschaft Alfred Eschers, des heimlichen Leiters der Zürcher Politik. Trotz des schlechten Wetters folgten über 10’000 Menschen dem Aufruf zum Protest. Keystone / Anonymous

Ohne die «demokratische Bewegung» im Kanton Zürich in den 1860er-Jahren wäre der politische Fortschritt nicht möglich gewesen. Sie brachte die Widersacher des Eisenbahnkönigs Alfred Escher, die radikalen Kulturkämpfer, gegen die Kirchen und die sozial eingestellten Handwerksgesellen zusammen, womit sich eine linke Alternative im freisinnigen Staat formte.

Trotz Bewunderung frohlockt Lang hier nicht. Vielmehr sieht er gerade darin das Aufkommen der Widersprüche zwischen Volks- und Bürgerrechten. Namentlich die Juden als religiöse Minderheit hatten sich gegen starke lokale, antisemitische Strömungen zu verteidigen und sie fanden in der Schweiz mit dem leuchtend weissen Kreuz lange ihren Platz nicht.

Beides, die Demokratisierung und die Ausgrenzung, begründen hier die einleitende These des Buches in einleuchtender Art und Weise.

Die klassische Gliederung des Stoffs geht nicht auf

Überraschenderweise folgt das neue Geschichtsbuch der anfangs entwickelten Logik im weiteren Verlauf des Buches nicht. Präsentiert wird keine Geschichte der weiteren sozialen Bewegungen, die zur Demokratisierung der Schweiz beigetragen hätten. 

«Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart», von Josef Lang, Verlag Hier und Jetzt, Baden 2020. Buchcover

Statt die Geschichte der Arbeiter-, die Jugend- und die Friedens-, Frauen- und Ökologie-Bewegungen zu präsentieren, gliedert Lang den Stoff klassisch in acht Zeitabschnitten, die meist 30 bis 40 Jahre umfassen und durch eine spezifische Dialektik charakterisiert werden.

Da geht es um vormoderne Revolten im Ancien Régime (bis 1804), um den Richtungsstreit zwischen Fortschritt und Restauration unter Einfluss Frankreichs resp. Österreichs (1798-1829) und um die Demokratisierung von unten, sprich von den Kantonen hinauf zum Bund (1830-1860). 

Die Zeit nach der Verfassungsrevision von 1874 umfasst die Episoden des Übergangs von der freisinnigen Herrschaft zum Landesstreik (1875-1919), vom autoritären Staat zur vitalen Opposition (1919-1949), von der Allmacht der geistigen Landesverteidigung zur grossen Krise (1949-1992) und von der patriotischen Rebellion hin zum Wahlsieg der Grünen im letzten Herbst (1992-2019).

Das überzeugt etwa mit der Arbeiterbewegung, dem Landesstreik und der grossen Demokratiereform am Ende des Ersten Weltkrieges. Es lässt jedoch die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für die Schweizer Frauen als Episode ohne eigenständigen Epocheneinschnitt erscheinen.

So bleibt die These der demokratischen Bewegungsgeschichte in Ansätzen stecken.

Josef Lang; Historiker und Politiker in einem

Unabhängig davon ist das neue Buch «Demokratie in der Schweiz», das im «Hier und jetzt Verlag» erschienen ist, ein gut lesbares Buch. Davon zeugt auch, dass die erste Auflage nach nur zwei Wochen ausverkauft war. Nicht Unmengen neu erschlossener Quellen machen seinen Wert aus. Vielmehr ist ein flüssig geschriebenes, «nur» 333-seitiges Lesebuch aus linker Sicht entstanden.

Das hat auch mit Langs Biografie zu tun. Der gelernte Historiker war über 30 Jahre lang ein umtriebiger Politiker zunächst der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), dann der Sozialistisch-Grünen Alternative Zug und schliesslich der Grünen Partei der Schweiz. Für sie war er Gemeinde-, Kantons- und Nationalrat. Zudem gehörte er zu den Mitbegründern der «Gruppe für eine Schweiz ohne Armee», die 1989 mittels Volksinitiative die Abschaffung des Schweizer Militär forderte.

Lang ist sich seiner Doppelrolle als Historiker und Politiker durchaus bewusst. Den Römer Publius Tacitus zitierend, glaubt er jedoch eine Geschichte «sine ira et studio» (ohne Zorn und Vorliebe) geschrieben zu haben.

Im Cockpit des Weltgeistes erkennt man die Geschichte nicht

Die Vermengung der Rollen wird im allerletzten Unterkapitel, pathetisch mit «Die Wende von 2019» betitelt, offensichtlich. Eine Sekunde lang fühlt man sich da im Cockpit des Weltgeistes.

Zurecht verweist Lang ganz im Sinne seiner These auf die Verbindung zwischen der Ökologie- und der Frauenbewegung, die das Wahljahr von der Strasse aus prägte und die Parlamentswahlen mit seltener Deutlichkeit beeinflusste. Grosser Sieger waren die Grünen. 

«Die Schweiz war das erste Land in Europa, in dem der sogenannte Rechtspopulismus einen Aufstieg erlebte. Es ist deshalb nicht überraschend, dass es das erste Land ist, indem er zum Abstieg antritt.» Jo Lang

Allerdings überhöht Lang das Ereignis, wenn er so die SVP als besiegt betrachtet: «Die Schweiz war das erste Land in Europa, in dem der sogenannte Rechtspopulismus einen Aufstieg erlebte. Es ist deshalb nicht überraschend, dass es das erste Land ist, indem er zum Abstieg antritt.»

Das ist doppelt gewagt. Weder ist der Rechtspopulismus in der Schweiz entstanden. Da waren weltweit die USA früher, in Europa sicher auch Frankreich und Dänemark. Noch ist der Niedergang der SVP nicht so sicher, wie unterstellt. In aller Regel überlassen Historiker solche Angelegenheiten der Zukunft und sehen es nicht als ihre Aufgabe, Geschichte über die eigene Zeit hinaus zu schreiben.

Allgemeine statt Schweizer Demokratiegeschichte bleibt das Ziel

Mit der zweiten Auflage soll es so weiter gehen. Bereits kündigt der Autor ein neues Kapitel zur Fortschreibung der Schweizer Demokratiegeschichte im Zeitalter der Corona-Krise an.

Ich hätte mir einen anderen Schluss gewünscht. Eine Übersicht über die aktuell brüchig gewordenen Demokratien hätte zeigen können, wodurch sie bedroht werden, wer sie stärkt respektive schwächt und was die Lehren aus der Geschichte sind.

Die Politikwissenschaft sucht die Antworten deshalb seit bald einem Vierteljahrhundert im Vergleich von Systemen und Akteuren. Lang erwähnt entsprechende Quellen zwar im Literaturverzeichnis, ignoriert deren Erkenntnisse im Text aber souverän.

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