Öffentlich oder privat? Der Kampf um die Zukunft des E-Voting
In der Schweiz stehen verschiedene Systeme zur elektronischen Stimmabgabe in Konkurrenz zueinander. Nach dem Scheitern eines Konsortiums mit neun Kantonen, das auf einen privaten US- Anbieter gesetzt hatte, stösst nun die Post mit ehrgeizigen Plänen in diesen Markt vor. Zum Leidwesen gewisser Abgeordneter und Magistratspersonen, für welche die Stimmabgabe per Internet eine Frage der nationalen Souveränität ist.
Seit den ersten Versuchen von 2003 stehen sich in der Frage, wie das E-Voting in der Schweiz umgesetzt werden soll, zwei Visionen gegenüber. Auf der einen Seite steht der Kanton Genf, wo der Staat traditionell eine wichtige Rolle spielt. Genf setzte von Anfang an auf ein öffentliches System, das von A bis Z von kantonalen Informatikern entwickelt wurde. Bisher zeigten sich drei weitere Kantone von dieser Lösung überzeugt: Luzern, Basel-Stadt und Bern.
Was denken hauptsächlich Betroffene?
Die Auslandschweizer-Organisation (ASO) will nicht für das eine oder andere E-Voting-System Position beziehen. «Vom Moment an, in dem ein System auf den Markt kommt, muss es so oder so einer Reihe von Tests unterzogen werden, um zu überprüfen, ob es den vom Bundesrat festgelegten Sicherheitsanforderungen entspricht», erklärt ASO-Ko-Direktorin Ariane Rustichelli.
In Bezug auf das Risikomanagement sei es aber auf jeden Fall besser, mehrere Systeme zu haben, die miteinander in Konkurrenz stünden, sagt die Vertreterin der Schweizer Diaspora.
«Das Beispiel des Zürcher Konsortiums zeigte, dass ein System zehn Jahre lang funktionieren kann, und schliesslich doch in Frage gestellt wird. Hätten wir nur ein System, und würde sich ein solcher Fall wiederholen, würde das den Tod des E-Voting bedeuten.»
Auf der anderen Seite standen 8 Deutschschweizer Kantone – darunter Zürich, Graubünden und St. Gallen – sowie der zweisprachige Kanton Freiburg, die sich im «Consortium vote électronique» zusammengeschlossen hatten. Sie setzten auf die Tugend des Wettbewerbs und wandten sich zur Entwicklung ihrer E-Voting-Plattform an einen privaten Anbieter, die US-Firma Unisys.
Doch nachdem das Konsortium aus Sicherheitsgründen vom Bundesrat keine Bewilligung zum E-VotingExterner Link für die eidgenössischen Wahlen vom 18. Oktober erhalten hatte, kündigte es nun seine Auflösung an.
Bleibt der Fall des Kantons Neuenburgs mit seinem einzigartigen virtuellen Behördenschalter, der auch die Möglichkeit beinhaltet, vom Computer aus abzustimmen oder zu wählen. Entwickelt wurde das Projekt vom Kanton in Zusammenarbeit mit dem beim E-Voting weltweit führenden spanischen Unternehmen Scylt.
Nachdem sie schon einige Zeit darauf gewartet hatte, mit einem vierten System auch auf diesen Markt vorzustossen, gab die Schweizerische PostExterner Link am 1. September bekannt, sie werde ab 2016 in Zusammenarbeit mit dem Kanton Neuenburg und Scylt erste Tests mit einer weiter entwickelten Plattform durchführen.
Zukunftsmarkt für die Post
Die Post entwickelte eine Plattform, deren Sicherheitsgrad potenziell allen Bürgern und Bürgerinnen die Teilnahme an Abstimmungen und Wahlen per Internet ermöglichen soll.
«Wir haben ein System der zweiten Generation konzipiert, das unserer Meinung nach zu 100% den Sicherheitsanforderungen der Bundeskanzlei entspricht», erklärt Claudia Pletscher, die bei der Schweizerischen Post für Innovation und Entwicklung zuständig ist.
«Die individuelle und die universelle Überprüfbarkeit sind garantiert. Das bedeutet, dass sowohl Wählerinnen und Wähler als auch die Wahlbehörden zu jeder Zeit überprüfen können, dass die Stimmabgabe registriert und korrekt erfasst wurde. Das ist eine grosse Neuheit.»
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«E-Voting ist Teil unserer strategischen Missionen»
Innerhalb von wenigen Monaten wurden die Karten ganz neu verteilt. Der Vorstoss der Post in den E-Voting-Markt sorgte für einen gewissen Wirbel. So hat etwa Christophe Darbellay, der Präsident der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP/Mitte), «ein wachsames, um nicht zu sagen misstrauisches Auge» auf den Bestrebungen des gelben Riesen.
«Die Post ist ein Schweizer Unternehmen in den Händen der Eidgenossenschaft und bietet somit bestimmte Garantien. Andererseits ist es unverständlich, dass sie als Partner auf ein spanisches Unternehmen setzt, das enge Beziehungen zum US-Verteidigungsdepartement hat. Die Probleme, mit denen sich das Konsortium der neun Kantone konfrontiert sah [es arbeitete mit der amerikanischen Firma Unisys zusammen], hätten ein Signal sein müssen», erklärt Darbellay.
Absurd, unnötig und kostspielig
Was sind seine Befürchtungen? Dass das Stimmgeheimnis, ein Pfeiler jeder Demokratie, in die Hände von Staaten oder privaten ausländischen Unternehmen mit schlechten Absichten geraten könnte. Der NSA-Skandal zeigte dies bereits, und der Walliser Politiker reichte im Mai im Nationalrat (grosse Kammer) eine MotionExterner Link ein, die vom Bundesrat (Regierung) verlangt, dafür zu sorgen, dass «das E-Voting in der Schweiz auf einer Lösung beruht, bei der die Rechte am geistigen Eigentum ausschliesslich der öffentlichen Hand gehören».
Würde Darbellays Vorstoss verabschiedet, würde dies für die Ambitionen der Post das Aus bedeuten. Nur das System des Kantons Genf würde die Forderungen der Motion erfüllen. «Es ist heute das einzige System, das zufriedenstellend ist», erklärt Darbellay, der es als absurd, unnötig und kostspielig erachtet, weiterhin mehrere Systeme nebeneinander zu entwickeln.
Wer per Internet wählen konnte
Nur vier Kantone gaben ihren im Ausland lebenden Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, bei den nationalen Parlamentswahlen vom 18. Oktober 2015 ihre Abgeordneten über das Internet zu wählen. Das sind 34’000 der insgesamt rund 142’000 Stimmberechtigten im Ausland, die in einem kantonalen Wahlregister eingetragen sind.
«Die Einführung des E-Voting braucht viel Zeit, und das ist bedauerlich. Gleichzeitig erreichen wir so aber auch ein hohes Qualitäts- und Sicherheitsniveau», sagt Ariane Rustichelli, Ko-Direktorin der ASO.
Zum ersten Mal konnten bei den Wahlen vom 18. Oktober zudem auch 96’000 Stimmberechtigte, die in den Kantonen Genf und Neuenburg leben, ihre Stimme elektronisch abgeben. Das sind rund 30% der Wahlberechtigten dieser beiden Kantone.
Der Präsident der Sozialdemokratischen Partei, Christian Levrat, der seinerseits im Ständerat (kleine Kammer) eine Interpellation zum ThemaExterner Link eingereicht hatte, erklärte bereits, dass er die Motion Darbellay unterstütze. Die Regierung erklärte, sie teile «grundsätzlich die Zielsetzung des Motionärs». Sie empfiehlt aber, den Vorstoss abzulehnen.
In der Antwort auf die Interpellation schreibt der Bundesrat, der Einsatz mehrerer Systeme habe sich bewährt. «Bei der Zulassung der Systeme für die elektronische Stimmabgabe steht die Erfüllung der Sicherheitsanforderungen an erster Stelle. Die Frage des Eigentums am System erachtet der Bundesrat dabei nicht als entscheidend.» Eine Position, die der CVP-Präsident bedauert: «Leider ist der Bundesrat ein Gefangener des Dogmas Wettbewerb», so Darbellay.
Eine Frage der nationalen Souveränität
Auch in Genf hat man den Vorstoss eines weiteren Akteurs im Auge. Die Post habe «ihre Absicht klar manifestiert, mit den Volksrechten Geld zu verdienen», sagt Anja Wyden Guelpa, die Genfer Staatskanzlerin.
«Unsere Philosophie unterscheidet sich radikal von jener der Post. Abstimmungen und Wahlen sind eine königliche Aufgabe und eine Frage der nationalen Souveränität. Es käme niemand auf die Idee, einer privaten ausländischen Firma die Auszählung der Papier-Stimmzettel anzuvertrauen. Die gleichen Anforderungen müssen für die elektronische Stimmabgabe gelten», unterstreicht sie.
Nun ist zwischen der Post und Genf ein Kampf im Gang, bei dem es darum geht, die anderen Kantone von den Errungenschaften der jeweiligen Ansätze zu überzeugen. Doch es sei ein ungleicher Kampf, sagt Wyden Guelpa.
«Anders als die Post oder Scytl haben wir keine Marketing- oder Kommunikationsteams, die sich auf dieses Projekt konzentrieren können. Unser Ziel ist übrigens nicht, die elektronische Stimmabgabe den anderen 26 Kantonen der Schweiz anzubieten. Andererseits braucht es eine gewisse kritische Masse, um die mit dem Aspekt Sicherheit verbundenen Kosten teilen zu können. Angesichts unserer Kapazitäten könnten wir pro Jahr etwa drei neue Kantone willkommen heissen», erklärt sie.
Der Kanton Genf stellt nicht einfach sein System zur Verfügung, sondern setzt die Gesamtheit der E-Voting-Operationen im Auftrag seiner Partnerkantone um. Mehrere weitere Kantone, darunter das Wallis, haben Interesse am Genfer Modell gezeigt.
Aber die Post steht dem in nichts nach und dürfte bald auch weitere Partnerschaften bekannt geben. «Bei den Kantonen besteht grosses Interesse an unserer Plattform», bekräftigt Pletscher.
Open-Source, Garant für Transparenz
Der Kanton Genf gab jüngst bekannt, dass er den Quellcode seiner E-Voting-Plattform bald offenlegen werde. «Wir wollen einen Dialog mit Hackern, akademischen Kreisen und Open-Source-Aktivisten schaffen», erklärte die Genfer Staatskanzlerin Anja Wyden Guelpa. «Denn je mehr man ein System hinter Panzertüren verriegelt, umso mehr werden Hacker Lust haben, durch ein Fenster einzudringen.»
Auch die Post will den Quellcode ihrer E-Voting-Plattform offenlegen, wie sie gegenüber swissinfo.ch sagte. Im nächsten Jahr, wenn die ersten Tests im Kanton Neuenburg stattfinden sollen.
Der Quellcode ist in gewissem Sinne das «Rezept» zur Herstellung eines Informatikprogramms, und zwar in Form der Anweisungen, die beim Programmieren in den Computer eingegeben werden.
Ein offener Quellcode – oder Open-Source-Code – ermöglicht jedem und jeder, die Charakteristiken eines Programms zu verifizieren, oder zum Beispiel zu überprüfen, ob Hintertüren eingebaut wurden, um unerlaubterweise an Daten heranzukommen.
In einem Open-Source-System kann die Programmierer-Gemeinschaft bei der Verbesserung des Codes mitmachen. Sicherheitsprobleme werden so oft rascher erkannt.
(Übertragen aus dem Französischen: Rita Emch)
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