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Droht jetzt die Eiszeit zwischen Brüssel und Bern?

Die EU-Aussenbauftragte Catherine Ashton war letzten Oktober zu Besuch in der Schweiz. Das Abstimmungsresultat könnte vor allem die Verhandlungen über die institutionellen Fragen belasten. Keystone

Vertreter der EU-Länder haben teils harsch auf das Ja der Schweizer Stimmbürger zur Initiative "gegen Masseneinwanderung" reagiert. Mit einem Donnerschlag aus Brüssel ist dennoch nicht zu rechnen.

«Gewiss gibt dieses Verdikt nicht den guten Ton vor, um in die Verhandlungen über die Regelung der institutionellen Fragen zu steigen», sagte Pia Ahrenkilde, Sprecherin der Europäischen Kommission.

Die Botschafter der 28 EU-Mitgliedstaaten sollen am Donnerstag grünes Licht geben für die Eröffnung der Verhandlungsrunde mit der Schweiz. Ob sie nun ihre Haltung ändern? Der Rat der EU für Aussenbeziehungen ist dagegen, zumindest im Moment. Er wartet vielmehr die Erklärungen der Schweizer Regierung vom Mittwoch ab. Darin soll der Bundesrat die Gründe angeben, die zum Resultat von Sonntag geführt haben.

Eines aber ist gewiss: Würde sich Bern für ausserstande erklären, die Personenfreizügigkeit wie vorgesehen auf den 1. Juli auf Kroatien auszudehnen, würde die EU sofort zu Gegenmassnahmen ausholen. 

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Es steht viel auf dem Spiel 

Zum einen würden die Verhandlungen über die Integration der Schweiz in neue Forschungs- und Bildungsprogramme der EU abgebrochen, die am Mittwoch fortgesetzt werden sollen. Zum anderen würde das Dossier der institutionellen Fragen blockiert.

Und eine Einigung auf diesem Gebiet ist für Brüssel die absolute Vorbedingung für die Weiterentwicklung der Beziehungen der Schweiz zu Brüssel. Konkret: Würde dieses Dossier auf Eis gelegt, würde das auch für die laufenden Verhandlungen in weiteren wichtigen Bereichen –  wie der Eintritt der Schweiz zum europäischen Strommarkt und Finanzmarkt – gelten. 

Nur der Anfang…. 

«Der freie Personenverkehr ist in der EU ein heiliges Gut», unterstrich Pia Ahrenkilde. Stellten die Schweizer Bürger dieses in Frage, würden sie die Gemeinschaft zwingen, «Konsequenzen zu ergreifen, welche die Gesamtheit der Beziehungen betreffen würden».

Damit spricht Ahrenkilde die so genannte Guillotine-Klausel an, die das Gesamtpaket der bilateralen Verträge I zusammenhält, das die EU und die Schweiz 1999 geschnürt hatten. Die Klausel besagt, dass Brüssel das ganze Paket künden kann, falls die Schweiz ein Abkommen verletzt.

«Der Ball liegt bei der Schweiz», sagt Pat the Cope Gallagher, Präsident der Delegation des Europaparlaments für die Beziehungen zur Schweiz. «Die Schweizer Regierung muss erst entscheiden, wie sie das Verdikt umzusetzen gedenkt. Danach prüft die EU die Auswirkungen dieser Massnahmen auf die Beziehungen der Schweiz mit der EU und wird entsprechend reagieren.» 

Rechtspopulisten und EU-Skeptiker haben das Ja zur Zuwanderungsinitiative mit Befriedigung zur Kenntnis genommen. Denn auch sie kämpfen gegen die Zuwanderung und wehren sich gegen das «Joch» aus Brüssel. Bei den Europa-Wahlen im Mai dürften sie kräftig zulegen.

Im letzten November trafen sich der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders von der Partei für Freiheit und Marine Le Pen, Vorsitzende des französischen rechtsextremen «Front National», in Den Haag.

Sie schlossen ein Rechtsbündnis, um künftig eine starke Fraktion im EU-Parlament bilden zu können. Ihr erklärtes Ziel: Die Auflösung der Europäischen Union und die Rückkehr zu souveränen Nationalstaaten.

Fachleute gehen davon aus, dass bei den Europawahlen vom 22. bis 25. Mai die extreme Rechte und die EU-Skeptiker bis zu 25 Prozent der Sitze im EU-Parlament erreichen könnten. Heute rechnet man gut zehn Prozent der 750 Abgeordneten zu den EU-Kritikern.

Der «Front National» gratulierte der Schweiz zu ihrem Entscheid. Und Le Pen stichelte via Twitter gegen Brüssel: «Die Schweiz sagt Nein zur Masseneinwanderung, bravo! Wird die EU nun Panzer schicken?» Wilders seinerseits zwitscherte: «Was die Schweizer können, das können wir auch.»

Applaus gab es auch aus Grossbritannien. Nigel Farage, Chef der EU-kritischen britischen «United Kingdom Independence Party» (UKIP) twitterte: «Die Schweiz kann eine Abstimmung über Immigration durchführen, weil sie nicht in der EU gefangen ist.»

(Quelle: sda)

Kontingente für EU tabu 

Sicher ist auch: Für die EU ist «die Einführung von Kontingenten gänzlich ausgeschlossen», wie ein Vertreter unmissverständlich festhält, der mit dem Dossier vertraut ist. Er sagt auch, dass Brüssel den Handlungsspielraum, über den die Schweizer Regierung verfüge, noch nicht kenne.

Andere Stimmen aber lassen keine Illusionen zu. Das Verdikt von Sonntag «führt zweifellos zu einem Überdenken des Pakets von 1999», sagte der französische Europaminister Thierry Repentin in Brüssel, wo er am Treffen der Chefdiplomaten der 28 EU-Staaten teilnahm. In Frage stellt Repentin auch das Schengen-Abkommen, das die Schweiz in den EU-Raum integriert.

Aber soweit ist es noch nicht. Theoretisch hat der Bundesrat drei Jahre Zeit, um das Abstimmungsresultat in ein Schweizer Gesetz zu giessen. «Man hat also Zeit», sagte der britische Aussenminister William Hague. 

«Schweiz in ‹guter Gesellschaft’….» 

Zu hören waren aus der EU aber auch weniger nette Stimmen. Luxemburgs Aussenminister Jean Asselborn etwa attackierte Christoph Blocher, einen der Chefdenker hinter der siegreichen Initiative, heftig. «Man kann den freien Personenverkehr nicht verscherbeln, wenn man gleichzeitig privilegierten Zugang zum EU-Binnenhandel hat. Christoph Blocher mag sehr viel Geld haben, aber er sieht nicht so weit», sagte Asselborn und schob nach, dass zu jenen, die applaudiert hätten, auch der Holländer Geert Wilders und Marine Le Pen vom französischen Front National gehörten.

«Er ist in guter Gesellschaft» im Klub der europäischen Populisten, sagte Jean Asselborn ironisch. Zu diesem Klub gehört auch Frankreichs ex-Permier  François Fillon. Dieser bezeichnete es als «völlig normal», dass die Schweiz die Öffnung der Grenzen für ausländische Arbeitskräfte ihrer Kapazität anpassen wolle, diese in ihre Gesellschaft zu integrieren. Fillon plädierte gar dafür, dass die EU das Modell der Schweiz übernehmen solle.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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