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Economiesuisse – Schweizer Spitzenverband 150 Jahre im europäischen Dilemma

Historisches Bild mit einem Handelsschiff auf dem Meer
Die Schweiz eroberte schnell aussereuropäische Märkte wie die Vereinigten Staaten. The Print Collector / Heritage-images

Das Aus für das geplante Rahmenabkommen mit der EU ist für den Dachverband der Schweizer Wirtschaft Economiesuisse ein harter Schlag. Seit 150 Jahren ist der Spitzenverband hin- und hergerissen, was den Freihandel zwischen den europäischen Märkten und dem Rest der Welt betrifft.

Wieder einmal zittert Economiesuisse: Nach dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen, das die Schweizer Regierung Ende Mai verkündete, fürchtet der Dachverband um die Stabilität der Handelsbeziehungen mit den Ländern der Europäischen Union. Diese sind enorm bedeutend, denn die EU-Länder sind die mit Abstand wichtigsten Handelspartner der Schweiz.

«Seit dem Mittelalter geht es um die grossen europäischen Nachbarn und die Diskriminierung von Schweizer Unternehmen», sagt die Wirtschaftshistorikerin Andrea FrancExterner Link, die an der Universität Basel schwergewichtig über den Nord-Süd-Handel forscht.

Jetzt, zum 150-jährigen Jubiläum von Economiesuisse, publizierte Franc das Buch «Im Austausch mit der Welt. Schweizer Unternehmen im 19. und 20. Jahrhundert»Externer Link.

Seit seiner Gründung im Jahr 1870 verfolgt der älteste und wichtigste Wirtschaftsverband des Landes ein Ziel: Den Zugang zu den Märkten in den Nachbarländern und dem Rest der Welt über den Freihandel.

Blockade und Schmuggel

Für die im Herzen Europas gelegene Schweiz erwies sich der freie Handel mit den europäischen Nachbarn schon früh als lebensnotwendig. Die regionalen Zusammenschlüsse von Kaufleuten wurden zu dessen Wächtern. Ab dem Ende des Mittelalters spielte die Industrie- und Handelskammer von St. Gallen-Appenzell, die älteste des Landes, eine entscheidende Rolle.

Die Ostschweizer Kaufleute standen an vorderster Front, um der Kontinentalsperre Napoleons in der Dekade von 1803 bis 1813 zu trotzen. Während die Handelsleute englische Waren schmuggelten, versuchte die Tagsatzung der eidgenössischen Kantone, Frankreich zu besänftigen.

Die Erfahrung dieses Embargos hatte den Schweizer Handel wesentlich geprägt. Ihrer Absatzmärkte beraubt, eroberten die Schweizer Kaufleute neue Märkte ausserhalb Europas, so unter anderem auch die Vereinigten Staaten. Damit wurden die Schweizer Handelsunternehmer zu Pionieren der wirtschaftlichen Globalisierung, wie sie sich heute durchgesetzt hat.

Der im Gefolge des Wiener Vertrages entstandene Protektionismus – verkörpert etwa durch den «Zollverein» von 1834 – verstärkte das Misstrauen der Schweizer Handelsleute gegenüber den Nachbarländern weiter. «Seit 150 Jahren geht es darum, die Kanäle zum Rest der Welt offen zu halten, um so wenig wie möglich von den unberechenbaren europäischen Mächten abhängig zu sein», sagt Andrea Franc.

Globale Unternehmer und heimische Politiker

Im neuen Bundesstaat Schweiz, der sich auch nach der Gründung 1848 im Aufbau befindet, sind es vorerst noch die kantonalen Handelskammern, die für die Wirtschaft und den Aussenhandel zuständig sind.

Der Glarner Textilunternehmer Peter Jenny Externer Link(1824-1879) ist der Prototyp des weltweit vernetzten Industriellen: Er hat eine Niederlassung auf den Philippinen, während er daheim Mitglied der liberalen Führungselite ist. Diese hat im jungen Bundesstaat die unumschränkte Macht.

Bis dahin hatte es wenig Handel zwischen den einzelnen kantonalen und regionalen Handelsorganisationen untereinander gegeben. Im Jahr 1869 trafen sich auf Initiative von Peter Jenny Delegierte von 13 kantonalen Gewerbeorganisationen. Die Westschweizer waren zunächst skeptisch gegenüber einem nationalen Verband, denn sie hätten lieber direkt mit den Vertretern des Bundes gesprochen.

Am 12. März 1870 tagte die Gründungsversammlung des neuen Schweizerischen Handels- und Industrievereins (SHIV)Externer Link. Der Zusammenschluss erfolgte nach dem Vorbild der alten Eidgenossenschaft: Eine kantonale Handelskammer wurde für zwei Jahre ins Präsidium gewählt.

Daraus leitete sich später der Begriff «Vorort» ab, der bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts als Bezeichnung für den Schweizerischen Handels- und Industrieverein gebräuchlich war. Die erste Amtszeit ging an die Berner Kammer. Ab 1878 hatte der Vorort ein ständiges Sekretariat.

Lukrative Kriegswirtschaft mit beiden Seiten

Nach dem Ersten Weltkrieg brach der Export ein und die Gewerkschaften und Bauern in der Schweiz begannen, über politische Ökonomie zu diskutieren. Vor allem die Vororts-Präsidenten Hans Sulzer (1876-1959) sowie Heinrich HombergerExterner Link (1896-1985) standen angesichts des Zweiten Weltkriegs unter Druck, in der Kriegswirtschaft tätig zu werden.

Mitten im Krieg gelang es dem Schweizerischen Handels- und Industrieverein, Bande zu beiden erbitterten Gegnern zu knüpfen: «Minister» Sulzer führte Gespräche mit den Alliierten im Ausland. Homberger, der auch «der achte Bundesrat» genannt wurde, verhandelte mit den Achsenmächten.

Porträt
Galt auch als «achter Bundesrat»: Vororts-Präsident Heinrich Homberger. ETH

Angesichts der zunehmenden staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft fasste in dieser schlimmen Zeit eine neoliberale Bewegung Fuss: 1942 wurde die Gesellschaft zur Förderung der schweizerischen Wirtschaft gegründet. Diese neue Wirtschaftsförderung und der Vorort fanden nach und nach zusammen, bis sie im Jahr 2000 schliesslich zu Economiesuisse fusionierten.

Festung Europa

Das Aufkommen internationaler Institutionen wie IWF, Weltbank, GATT sowie des europäischen Blocks in der Nachkriegszeit hat das Dilemma des Vororts weiter zugespitzt. «Die Frage ist immer, ob man Freihandel auf europäischer oder globaler Ebene haben will. Der Beitritt zu einer europäischen Zone kann für Schweizer Unternehmen eine Diskriminierung gegenüber nicht-europäischen Unternehmen bedeuten. Selbst innerhalb des Vororts ist die Einstellung zu den verschiedenen Abkommen nicht einheitlich», so Andrea Franc.

Die Alternative des Vororts zur «Festung Europa» war die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA), die 1960 gegründet worden war. Der Schweizerische Handels- und Industrieverein ist einerseits nicht unbedingt scharf auf den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), lehnt andererseits aber auch die damalige Europäische Gemeinschaft (EG) klar ab.

Brüssel ist, wie Frankreich zu Zeiten der Kontinentalsperre, «ein grosser und mächtiger Nachbar, von dem Schweizer Unternehmen nichts als Diskriminierung und absolut keine Nachsicht erwarten», schreibt Andrea Franc in ihrem Buch.

1992 hatte der Vorort in der Kampagne zur Volksabstimmung vergeblich für den Beitritt zum EWR plädiert. Denn er war als das kleinere Übel gesehen worden. «Die Schweiz musste sich zwischen Europa und der Welt entscheiden, wie sie es immer getan hat», so Andrea Franc, «sie hat sich für die Welt entschieden.»

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