Ecopop-Kampagne geht auf die Strasse
Auch wenn man die Stimmung potentieller Wählerinnen und Wähler auslotet, die an Demonstrationen und Diskussionen teilnehmen, bleibt schwierig abzuschätzen, wie die Abstimmung zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums am 30. November ausgehen wird.
Eine erste Meinungsumfrage ergab zwar eine grosse Mehrheit gegen die Ecopop-Initiative. Dennoch gibt es Befürchtungen, die Idee könnte mehr Unterstützung erhalten, als die Leute offen eingestehen.
Es ist ein warmer Samstagnachmittag, der Bundesplatz in der Hauptstadt Bern füllt sich langsam mit Leuten, die an der Anti-Ecopop-Demonstration teilnehmen, zu der Gewerkschaften und linke politische Parteien aufgerufen haben.
«Nein zu Ecopop» heisst es in Deutsch, Französisch und Italienisch – den drei offiziellen Amtssprachen der Schweiz – auf einem Banner über der mobilen Bühne, wo ein lokales Rap-Duo im Vorfeld versucht, die Menge in Schwung zu bringen.
«Let’s make love on Parliament Square» (Lasst uns Liebe machen auf dem Bundesplatz) und «This square is our dance floor» (Dieser Platz ist unsere Tanzbühne) witzelt der Rapper, während ein Ballon der Hand eines kleinen Mädchens entgleitet. Und in der Nähe des Bundesplatzes sitzt eine Mutter sitzt auf dem Trottoir und stillt ihr Baby.
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Es herrscht eine friedliche Atmosphäre, die späte Herbstsonne scheint auf die paar tausend Demonstrierenden vor dem Bundeshaus. Die verschiedenen Gruppen mit ihren Fahnen erscheinen pünktlich wie eine Uhr auf dem Platz, man hört Trillerpfeifen, Stimmen erschallen aus Megaphonen.
Aktivisten nutzen die Gelegenheit, auch andere Anliegen zu propagieren, sei es indem sie Gewerkschaftszeitungen verteilen oder Unterschriften sammeln für Initiativen der politischen Linken, etwa um einen zweiten Strassentunnel durch den Gotthard zu blockieren.
Rote Karten und Ballone
Auf der Bühne treten verschiedene Redner ans Mikrophon, Gewerkschaftsführer, Sozialdemokraten, Grüne. Sie warnen vor der unmenschlichen Ecopop-Initiative und deren verheerenden Konsequenzen. Sie fordern laut und deutlich «rote Karten für die Diskriminierung ausländischer Arbeitskräfte» und «rote Karten für eine Politik, die Migrantinnen und Migranten zu Sündenböcken» macht.
Eine Frau, Mitte 50, mit süddeutschem Akzent, schaut zu und verbirgt ihre Enttäuschung nicht. Sie hatte offensichtlich mehr Leute und mehr Enthusiasmus erwartet. Und fragt: «Sind Demonstrationen in der Schweiz immer so?»
Sie kam aus der nicht weit entfernten Stadt Biel in die Hauptstadt, um ihrer Angst über ein Land Ausdruck zu geben, das davor stehe, Europa und der Welt im Allgemeinen den Rücken zu kehren und in engstirniges Denken zu verfallen, wie sie sagt.
Insgesamt zeigt sich das Bild eines friedlichen Protestes, wären da nicht die einsatzbereiten Polizeikräfte in voller Montur. Sie durchsuchen verdächtig aussehende potentielle Unruhestifter.
Und halten ein aufmerksames Auge auf eine Gruppe von Demonstranten, einige davon maskiert, die später zu einem Marsch durch die Altstadt aufbricht. Der Verkehr ist zeitweilig unterbrochen, Wochenend-Einkäufer fluchen.
Einwanderungs-Quoten
Am 9. Februar 2014 stimmte eine Mehrheit für die Initiative der Rechtskonservativen zur Wiedereinführung von Einwanderungs-Quoten, die keine detaillieren Zahlenvorgaben machte.
Die Initiative fordert von der Schweizer Regierung eine Neuverhandlung des bilateralen Abkommens über den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der Europäischen Union.
Die Regierung hat bis 2017 Zeit, die Initiative umzusetzen. Diese verkompliziert die Beziehungen mit der 28 Staaten umfassenden EU, der wichtigsten Handelspartnerin der Schweiz.
Die Ende November zur Abstimmung kommende Ecopop-Initiative verlangt, dass die Nettoeinwanderung – Einwanderer minus Auswanderer – pro Jahr auf 0,2% der Wohnbevölkerung begrenzt wird, was zurzeit etwa 16’000 Personen entspricht. Zudem sollen gleichzeitig 10% der staatlichen Entwicklungshilfe in Familienplanungs-Programme in der Dritten Welt fliessen.
In den vergangenen Jahren lag die Nettoeinwanderung in der Schweiz im Durchschnitt bei etwa 80’000 Personen.
Die Wohnbevölkerung der Schweiz beträgt zurzeit etwa 8,2 Millionen Menschen, rund 24% davon sind Ausländerinnen und Ausländer.
Im Vorfeld hatte es Befürchtungen gegeben wegen möglicher Zusammenstösse zwischen links- und rechtsgerichteten Militanten. Doch nachdem der Nachmittag schliesslich ohne grössere Zwischenfälle verlaufen war, konnte der städtische Sicherheitsdirektor gegen fünf Uhr aufatmen.
Nervös
Die Kampagne für und gegen die Ecopop-Initiative wurde in den vergangenen Wochen in Zeitungskolumnen und auf öffentlichen Plakatwänden zunehmend intensiver geführt.
Bundesräte (Minister), Wirtschaftsführer, Schreiber von Leitartikeln in Zeitungen und sogar Christoph Blocher, die Galionsfigur der Rechtskonservativen, sind alle etwas nervös und warnen vor strikten Begrenzungen der Einwanderung. Es scheint, als ob sie der Stimmbevölkerung nicht ganz zutrauen, das Begehren abzulehnen.
Befürworter der Ecopop-Initiative werden als «Egoisten», wenn nicht sogar als «Faschisten» bezeichnet, politische Akteure tauschen Vorwürfe aus, schieben der Regierung oder der Schweizerischen Volkspartei die Schuld für eine allfällige böse Überraschung zu.
Das Potential zu einem solchen Ausgang zeigt sich in den Reaktionen in Leserkommentaren, sei es in Zeitungen, auf Online-Nachrichtenportalen oder Social-Media-Plattformen. Gibt es eine dunkle Macht, die gewillt ist, ihren Ärger auszudrücken und sich am Abstimmungstag zu zeigen, wie der Medienredaktor der Neuen Zürcher Zeitung sinniert?
Der Tages-Anzeiger und Der Bund ihrerseits warnen die Regierung: Sie unterschätze die Bedenken in der Bevölkerung was die hohe Zahl von Immigranten angehe, oder die Angst, die Arbeit zu verlieren oder keine bezahlbare Wohnung mehr zu finden, oder den Unmut der Bevölkerung über volle Pendlerzüge und Busse.
Protest…
Ein pensionierter ehemaliger Gewerkschafter in Zürich macht keinen Hehl daraus, dass er für die Ecopop-Initiative stimmen werde. Er wartet auf den Beginn einer Podiumsdiskussion im Kaufleuten-Saal, einem beliebten Veranstaltungsort für Konzerte, Theatervorführungen oder Lesungen im Bankenviertel der Stadt.
Der 64-Jährige, mit grossen Schnauz und einem Grinsen auf dem Gesicht, sagt, die Regierung verdiene nichts Besseres. Der überraschende Ausgang der Abstimmung vom 9. Februar, als die Mehrheit der Stimmenden eine rechtskonservative Initiative zur Wiedereinführung von Einwanderungsquoten annahm, reiche «nicht aus», meint er. Nur um seine Hoffnung einzuräumen, dass die Initiative knapp abgelehnt werde.
Im Verlauf der nächsten zwei Stunden kommentiert er die Aussagen der Podiumsteilnehmenden, darunter Justizministerin Simonetta Sommaruga und lokale Politiker, freimütig.
Der Grossteil des Publikums, schätzungsweise 500 Leute, Alte und Junge, Männer und Frauen, einige in Anzügen, andere eher locker gekleidet, scheint mit echtem Interesse zuzuhören, Politiker und Aktivisten beider Seiten erhalten höflichen Applaus.
Es ist der sechste öffentliche Auftritt von Sommaruga im Verlauf der Abstimmungskampagne, und sie nutzt einen grossen Teil ihrer 20 Minuten dauernden Rede dazu, zu erklären, wie die Regierung gedenkt, das Resultat der Abstimmung vom Februar umzusetzen.
… und ein Sinneswandel
Erst danach kommt sie auf die Ecopop-Initiative zu sprechen. Dabei warnt sie vor Proteststimmen, welche die Dinge «für die Schweiz sicher nicht einfacher machen würden».
Die Reaktion des Publikums fällt gemischt aus. Erschöpft oder ungeduldig nach 90 Minuten, unterbrechen Zwischenrufer die Podiumsteilnehmer und fordern klare Antworten statt leerer Worte.
Bei einem informellen Empfang nach der Veranstaltung scheint eine Mehrheit der Leute zufrieden zu sein, mit dem, was sie gehört haben. Einige kritisieren den TV-Präsentatoren, der die Diskussion leitete, andere zögern mit einer Antwort auf die Frage, wie sie die Veranstaltung fanden: «So so, la la, nichts Neues, aber nicht uninteressant.»
Eine elegante, etwa 80-jährige Frau sitzt in der Lobby, mit einem Glas Rotwein vor sich. Sie hat den Abend sehr genossen. «Es war eine lebhafte Diskussion und Frau Sommaruga war sehr gut.»
Ihrer Ansicht nach brauchte einer der Ecopop-Vertreter auf dem Podium zu viele Zahlen, um die Initiative zu erklären.
Vor der Veranstaltung war sie für die Ecopop-Initiative. «Aber jetzt werde ich vielleicht hingehen und Nein stimmen.»
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