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Einwanderungstopp: Schweiz doppelt nicht nach

Die Schweiz will ihre Grenzen nicht ganz schliessen. Eine deutliche Mehrheit des Stimmvolks lehnt die Initiative gegen "Überbevölkerung" ab. Keystone

Die Initiative gegen "Überbevölkerung" des Vereins Ecopop ist mit 74% Nein-Stimmen unerwartet deutlich abgelehnt worden. Das Volksbegehren, das die Zuwanderung aus "ökologischen Gründen" rigoros bremsen wollte, wurde auch in sämtlichen Kantonen abgelehnt.


Die Schweizer Regierung nimmt das Resultat mit Genugtuung zur Kenntnis. Die Initiative mit ihren starren Vorgaben sei nicht mehrheitsfähig, sagt Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Sie hätte kein einziges Problem gelöst, sondern die Schweiz vor grosse Probleme gestellt.

Gleichzeitig bekräftigt die Justizministerin, dass die Initiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) «Gegen Masseneinwanderung», die das Stimmvolk am 9. Februar mit knapper Mehrheit angenommen hatte, im geplanten Rahmen umgesetzt werde. 

Die Zuwanderung sei wichtig für die Schweiz, sie habe aber auch problematische Seiten. Diese werde aber mit Massnahmen im Inland angegangen, versprach Sommaruga.

Ein Grund für die deutliche Ablehnung sei, dass die Mobilisierung deutlich schwächer gewesen sei als am 9. Februar, sagte Claude Longchamp vom Forschungsinstitut gfs.bern am Schweizer Fernsehen SRF. Der Unterschied hängt gemäss Longchamp mit der Mobilisierungskraft der SVP zusammen, die hinter der Masseneinwanderungsinitiative vom 9. Februar stand, nicht aber hinter der Ecopop-Initiative. Anders als die SVP könne das Ecopop-Komitee  nicht «die ganze Schweiz auf die Beine bringen».

Als weiteren Grund für das deutliche Nein nannte Longchamp den «klaren Medientenor». Die Medien hätten vor den massiven Konsequenzen gewarnt, die ein Ja zu Ecopop gehabt hätte.

Mit Ernüchterung nimmt Cornelia Keller, Vizepräsidentin des Komitees Ecopop, das Resultat auf. Der Bundesrat, die Parlamentarier und die Parteien hätten sich geschlossen gegen die Initiative ausgesprochen.

Diese hätten 30 Mal mehr Mittel zur Verfügung gehabt, um die Initiative zu bekämpfen, sagte Keller in einer ersten Reaktion gegenüber Fernsehen SRF. Die Initianten hätten trotz der massiven Front der Gegner versucht aufzuzeigen, welches Wirtschaftswachstum noch umweltverträglich sei.

Die Ablehnung der Ecopop-Initiative mag deutlich sein, das Abstimmungsresultat vom 9. Februar macht sie nicht rückgängig. Die Verfassung verpflichtet Bundesrat und Parlament, die Zuwanderung wieder mit Kontingenten zu steuern. Der Bundesrat steht weiterhin vor der schwierigen Aufgabe, mit der EU die Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln, ohne das ganze Vertragswerk der bilateralen Verträge mit der EU aufs Spiel zu setzen.

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Viel Applaus aus unterschiedlichen Gründen

Für den Wirtschaftsstandort sei das Abstimmungsresultat von grösster Bedeutung, schreibt der Wirtschaftsdachverband economiesuisse. Die radikale Vorlage hätte die Rahmenbedingungen für die Schweizer Wirtschaft massiv verschlechtert. Die ‹Masseneinwanderungsinitiative› müsse jetzt mit Augenmass umgesetzt werden, schreibt der Verband und fordert, dass der bilaterale Weg mit der Europäischen Union dabei nicht aufs Spiel gesetzt werde.

Erleichterung herrscht auch auf Arbeitnehmerseite. Gleichzeitig pochen die Gewerkschaften auf mehr Schutz für Arbeitnehmer, um in der Bevölkerung das Vertrauen gegenüber der Zuwanderung wieder aufzubauen und die Bilateralen zu sichern. Bundesrat und Parlament müssten nun dafür sorgen, dass die gesamte Bevölkerung von den Bilateralen Abkommen mit der EU profitiere.

Die Grüne Partei fordert Bundesrat und Parlament auf, endlich die nötigen Reformen  «gegen eine Verschwendungswirtschaft anzugehen, die auf Kosten der nächsten Generationen lebt.

Für die SVP zeigt das Nein, dass das Volk bei der Zuwanderung keine «Extremlösung» will.   Die Stimmbürger erwarteten nun, dass die am 9. Februar angenommene Initiative ‹Gegen Masseneinwanderung› «rasch und konsequent umgesetzt» werde.

Auch die Sozialdemokratische Partei (SP) zeigt sich erfreut. Es brauche keine fremdenpolizeiliche Repression, sondern innere Reformen bei Bildung, Wohnen, Raumplanung und Arbeitsmarkt.

Das Volk zeige Weitsicht und setze ein starkes Zeichen für den Wirtschaftsstandort Schweiz sowie die bilateralen Abkommen, schreibt die Freisinnige Partei (FDP.Die Liberalen). Die Zuwanderung müsse jetzt «hart aber fair» geregelt werden.  

Nun werde sich die Diskussion um die Zuwanderung wieder auf die Umsetzung der ‹Masseneinwanderungs-Initiative› verlagern, schreibt die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP). Dabei dürften aber die Bilateralen mit der EU nicht fallen.

«Grünes Mäntelchen»

Die InitiativeExterner Link wollte eine Einwohnerzahl auf einem Niveau anstreben, «auf dem die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft sichergestellt sind». Konkret: Die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz hätte infolge Zuwanderung im dreijährigen Durchschnitt um höchstens 0,2% pro Jahr wachsen dürfen. Ausserdem hatte die Initiative verlangt, dass der Bund 10% seiner finanziellen Mittel, die in die internationale Entwicklungszusammenarbeit fliessen, für Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung in Entwicklungsländern einsetzt.

Das Ecopop-Initiativkomitee (ECOlogie und POPulation) war auf eine breite Ablehnungsfront gestossen. Sämtliche politischen Parteien auf der rechten wie linken Seite bekämpften die Vorlage. Zahlreiche Organisationen – Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, Kirchen, Nichtregierungs-Organisationen – hatten sich gegen die Initiative ausgesprochen. Sie kritisieren, dass die Initiative kolonialistische und extremistische Züge aufweise, die humanitäre Tradition der Schweiz gefährde und die ökonomische Entwicklung abwürge.

Regierung wieder auf Siegeskurs

Mit seinem Dreifachsieg vom Sonntag hat die Schweizer Regierung ihre Abstimmungsbilanz für 2014 aufpolieren können. Insgesamt unterlag sie in drei von zwölf Vorlagen – einmal mehr als letztes Jahr. Am häufigsten liegt jeweils die SVP mit ihren Parolen daneben. Am treffsichersten sind GLP und BDP. Gegen den Willen der Landesregierung nahmen die Stimmenden am 9. Februar die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» und am 18. Mai die «Pädophilen-Initiative» an. Nein sagten sie im Mai auch zu dem vom Bundesrat beantragten Kauf von Gripen-Kampfjets.

Die sieben anderen Volksbegehren, die heuer zur Abstimmung gelangten, bekämpfte der Bundesrat erfolgreich. Einen wichtigen Sieg konnte er unter anderem mit der Annahme seiner Vorlage über den Ausbau der Bahninfrastruktur (FABI) im Februar erringen.

(Quelle: sda)

Keine Gnade fand die Ecopop-Initiative auch bei den traditionellen Umweltschutz-Organisationen, obwohl einige Basismitglieder ein gewisses Verständnis für das Ziel von Ecopop zeigten, die Umweltbelastung zu reduzieren. Aber alle Sektionen der Grünen und die Umweltorganisationen sagten deutlich nein, aus der Überzeugung heraus, dass die Vorlage in einem grünen Mäntelchen nichts anderes als eine Initiative gegen «Überfremdung» sei. Sie bringe keine Verbesserung für die Umwelt, sondern zementiere die aktuellen Fehlentwicklungen, insbesondere in der Raumplanung.

Sogar die SVP, welche die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» lanciert hatte, empfahl offiziell, die Ecopop-Initiative abzulehnen. Sie befürchtete insbesondere, dass die Wirtschaft zu stark eingeschränkt würde. Weil aber einige ihrer Sektionen die Initiative unterstützten, gab es Zweifel, ob die Basis der Parteileitung folgen würde.

«Mehr Bildung statt Kondome»

Auch Entwicklungshilfe-Organisationen sprachen sich einhellig gegen Ecopop aus, weil diese in ihrem zweiten Anliegen das Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern durch «freiwillige Familienplanung» bremsen wollte. Die Hilfsorganisationen argumentierten, dass Familienplanung nur funktioniere, wenn das Bildungsniveau verbessert und sich die Frauen emanzipieren könnten, und nicht indem man dort Kondome verteile.

Lanciert hatte die Initiative der Verein Ecopop, eine parteiunabhängige Umweltorganisation, die vor 40 Jahren gegründet worden war. Vor der Lancierung ihrer Initiative «Stopp der Überbevölkerung – zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen», war sie in der Öffentlichkeit wenig bekannt. 

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