Demokratie und Gleichberechtigung – ein Paar im Gleichschritt
Die Schweizer:innen öffnen die Ehe mit einem klaren Ja auch für gleichgeschlechtliche Paare – und zeigen auf, wie die direkte Demokratie der Gleichberechtigung helfen kann. Ein Blick in die Welt zeigt jedoch: So selbstverständlich war und ist dies bis heute nicht.
Es war eine andere Art von Abstimmungsparty, die Ende September im Chingusai Quartierclub im Süden der südkoreanischen Hauptstadt Seoul stattfand. «Wir jubelten alle, als die ersten Resultate aus der Schweiz bekannt wurden», erzählt Munjin Kim.
Die 35 Jahre alte kaufmännische Angestellte und LGBTQ-Aktivistin versammelte sich an diesem Abend in einem der wenigen offiziellen Treffpunkte für Schwule und Lesben in Südkorea: «Der klare Volksentscheid in der Schweiz motivierte uns, auch hier in Korea eine Petition für die Ehe für Alle zu starten», sagt Kim und fügt hinzu: «Bisher dominierten in der öffentlichen Debatte über LGBTQ-Rechte konservative und kirchliche Kreise.»
Am 26. September dieses Jahres stimmten in einer historischen Volksabstimmung 64,1% der Schweizerinnen und Schweizer für ein gleichberechtigtes Eherecht. Historisch auch deswegen, weil damit die bisherige Weltbestmarke in einem nationalen Referendum – 62% in Ireland im Jahr 2015 – noch übertroffen wurde.
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Schweiz sagt «Ja, ich will» zur Ehe für alle
Dieser Erfolg für ein wichtiges Gleichberechtigungsanliegen an der Abstimmungsurne fügt sich ein in eine weltweite Trendwende, sagt die US-amerikanische Verfassungsrechtlerin Nan D. Hunter. Sie lehrt an der Georgetown University in Washington DC: «Bis vor ein paar Jahrzehnten dienten direktdemokratischen Verfahren vor allem dazu, LGBTQ-Rechte zu verhindern.»
Über kein anderes Thema wurde in den US-Bundesstaaten, aber auch auf lokaler Ebene, in den vergangenen fünfzig Jahren mehr abgestimmt: «Von den über 150 Abstimmungen bis zur Jahrtausendwende gewannen die Gegner der LGBTQ-Gleichberechtigungen in drei Viertel aller Fälle», sagt Nan D. Hunter. Doch änderte sich das Bild: «Die Trendwende in Amerika begann mit einem Strategiewechsel der Befürworter: statt besonderen Rechten für eine Minderheit wurde nun in Volksinitiativen und Abstimmungskampagnen das in einer Demokratie grundlegende Recht auf Gleichberechtigung in den Mittelpunkt gerückt.»
Das entsprach dem Zeitgeist, überzeugte die politische Mitte und letztlich auch die Gerichte: Im Juni 2015 setzte das höchste Gericht der USA dem langen Ringen ein Ende und erklärte sämtliche Verbote gegen ein gleichberechtigtes Eherecht für verfassungswidrig. Nach dem positiven Volksentscheid in der Schweiz ermöglichen nun 29 Staaten weltweit die «Ehe für Alle».
Global bleibt die Nutzung direktdemokratischer Instrumente für die Stärkung der Gleichberechtigung aber ein zweischneidiges Schwert. «Es kommt ganz darauf an, unter welchen Bedingungen eine Volksabstimmung ausgerufen wird», sagt Zoltán Tibor Pállinger, der Rektor der deutschsprachigen Andrássy Universität in der ungarischen Hauptstadt Budapest.
Während in Ländern wie in Finnland, Taiwan oder auch Australien Volksinitiativen und Referenden in den letzten Jahren der «Ehe für Alle» letztlich zum Durchbruch verholfen haben, versucht die nationalkonservative Regierung in Ungarn derzeit, mit einer Volksabstimmung «von oben» – einem Plebiszit – Stimmung gegen die LGBTQ-Minderheit im Land zu machen.
«Ministerpräsident Orbán möchte das LGBTQ-Rechte-Referendum nutzen, um die Opposition zu schwächen», sagt Pállinger im Gespräch mit SWI swissinfo.ch und fügt hinzu: «Dabei wären auch in Ungarn Volkabstimmungen möglich, die von den Bürgerinnen und Bürgern selbst ausgelöst worden sind.»
Zoltán Tibor Pállinger im Videointerview während des Internationalen Demokratieforums 2021 in Zofingen:
«Diesmal lassen wir uns nicht mehr von Orbán spalten», sagt Ágnes Erdös auf einer Demonstration gegen das neue LGBTQ-Gesetz im Zentrum von Budapest. Die vierzig Jahre alte Lehrerin lebt seit vielen Jahren mit ihren Partnerin zusammen und zeigt sich zuversichtlich. «Wenn sogar die konservative Schweiz so deutlich für die Ehe für Alle stimmen kann, dürfen wir hier in Ungarn doch nicht in die gegenteilige Richtung gehen.» Tatsächlich würde das von der Regierung Orbán erlassene Gesetz bei einer Annahme in der Volksabstimmung, die LGBTQ-Rechte weiter einschränken. «Dann wandere ich aus», sagt Erdös zu SWI swissinfo.ch.
Laut einer neuen Studie des Forschungsinstitutes «Varieties of Democracy» an der Universität Göteborg besteht ein klarer Zusammenhang zwischen der Demokratie- und Gleichberechtigungs-Stärke in einem Land: «In autoritär geführten Staaten sind die Zustimmungsraten für Gleichberechtigungsanliegen im Durchschnitt um zwei Drittel tiefer als in demokratischen Ländern», sagt V-Dem Forscherin Nazifa Alizida.
Dieser Zusammenhang kann sowohl die klare Zustimmung zur «Ehe für alle» in der Schweiz – auf Demokratierang 5 (bei V-Dem) und Gleichberechtigungsrang 10 (beim WEF) – erklären wie auch die Ablehnung in Ungarn (Platz 89 resp. 99). Gleichzeitig macht der grosse Unterschied zwischen den Platzierungen in Südkorea den Menschen vor Ort auch etwas Hoffnung: das ostasiatische Land liegt zwar bei Gleichberechtigungsindex gegenwärtig noch hinter Ungarn auf Platz 102, gehört aber laut V-Dem unterdessen zu den zwanzig besten Demokratien der Welt.
Volksrechte als Lösungsansatz?
Die ehemalige südkoreanische Gleichberechtigungs- und Familienministerin Jung-Ok Lee bestätigt den Eindruck der LGBTQ-Aktivistin Kim, dass es in ihrem Land in der Frage der geschlechtsneutralen Ehe bis heute einen grossen Widerstand aus konservativ-christlichen Kreisen gebe: «Auch deshalb wagen sich weder gewählte Politiker noch die Gerichte an dieses Thema.»
Einen möglichen Ausweg sieht Lee jedoch in der Stärkung der direktdemokratischen Volksrechte. Solche gibt es in Korea bislang erst auf der lokalen und regionalen Ebene. Auf der nationalen Ebene sind bislang nur obligatorische Abstimmungen über Verfassungsänderungen vorgesehen. Im südkoreanischen Parlament wird aber eine entsprechende Reform auf der nationalen Ebene beraten.
Die Entwicklungen der letzten Jahre machen deutlich: eine Stärkung der demokratischen Mitbestimmungsrechte und der Gleichberechtigung von Minderheiten gehen Hand in Hand – das gilt aber auch im Falle einer Schwächung der Demokratie.
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