Sorgen Financiers für Hunger auf der Welt?
"Mit Essen spielt man nicht!": Die Schweizer JungsozialistInnen nehmen diesen Satz, den Kinder oft zu hören kriegen, ernst. Am 28. Februar wird sich das Schweizer Stimmvolk zu ihrer Initiative "Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln" äussern, die der Spekulation mit Lebensmitteln an der Börse einen Riegel schieben will. Für die Gegner ist das Projekt unrealistisch und schädlich für die Wirtschaft.
Die Nahrungsmittelmärkte werden von Zeit zu Zeit von plötzlichen Fieberschüben erschüttert. Die Preise steigen, zum Schaden der ärmsten Bevölkerung, die dann ihrer Wut immer mehr mit Protesten Ausdruck verleiht. In den vergangenen Jahren ist es zweimal zu solchen Krisen gekommen, 2007-2008 sowie 2010.
Für die Jungsozialisten und Jungsozialistinnen der Schweiz (JUSO) lässt sich das Problem überrissener Preise zu einem grossen Teil durch die Spekulation erklären. Das ist der Grund, wieso die JUSO die Initiative «Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln» lancierte.
Nase von der Lenkstange heben
Der Initiativtext verlangt, dass Finanzinstitute (Banken, Versicherungen, institutionelle Anleger, Anlagefonds, Vermögensverwalter etc.), die ihren Sitz oder eine Niederlassung in der Schweiz haben, «weder für sich noch für ihre Kundschaft und weder direkt noch indirekt in Finanzinstrumente investieren» dürfen, «die sich auf Agrarrohstoffe und Nahrungsmittel beziehen». Dasselbe soll auch für den Verkauf entsprechender strukturierter Produkte gelten.
Die Vorlage in Kürze
Die Initiative «Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln» wurde von den Jungsozialisten und Jungsozialistinnen der Schweiz (JUSO) lanciert.
Das Volksbegehren wurde im September 2012 mit 117’000 gültigen Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht.
Die politische Rechte und Wirtschaftskreise sind gegen die Initiative, während die Linke sowie Organisationen, die im humanitären Bereich und in der Entwicklungszusammenarbeit aktiv sind, die Initiative unterstützen.
Parlament und Regierung empfehlen, die Initiative abzulehnen. Der Nationalrat stimmte mit 119 gegen 5 Stimmen bei 5 Enthaltungen dagegen, der Ständerat mit 30 gegen 10 Stimmen bei einer Enthaltung.
Nach dem relativen Erfolg der Initiative «Für gerechte Löhne», die 2011 bei der Abstimmung 34,7% der StimmenExterner Link erhalten hatte, wollte die JUSO erneut auf den Plan treten. «Wir setzten auf das Thema der Spekulation mit Nahrungsmitteln, denn als JUSO ist es unsere Aufgabe, im Parlament Themen einzubringen, welche die Welt der Politik lieber vermeiden würde, weil sie komplex und international sind und verlangen, dass man die Nase etwas von der Lenkstange hebt», erklärt der sozialdemokratische Nationalrat Mathias ReynardExterner Link.
«Wir haben es auch getan, weil die Schweiz in dieser Frage eine zentrale Rolle spielt, und weil Leute wie Jean Ziegler mit all der Arbeit, die sie für das Recht auf Arbeit geleistet haben, die Rolle der Schweiz und der Spekulation klar aufgezeigt haben», fügt Reynard hinzu.
Entscheidender oder marginaler Faktor?
Die Initiative wird von praktisch der Gesamtheit der politischen Parteien und Gruppierungen der Linken sowie von Organisationen unterstützt, die im humanitären Bereich und in der Entwicklungszusammenarbeit aktiv sind. Für sie ist klar, dass die Spekulation beim Anstieg der Preise eine grosse Rolle spielt.
«Hunger und Mangelernährung sind kein zwingendes Schicksal. Sie entstehen aufgrund von Mechanismen, aufgrund von spekulativem Spiel. Man kann mit vielen Dingen spielen, aber nicht mit Nahrungsmitteln», unterstreicht Mathias Reynard.
Die politische Rechte und Wirtschaftsorganisationen teilen diese Ansicht nicht, in ihren Augen lassen sich die Preisanstiege vor allem durch andere Phänomene erklären. «Klimatische Unsicherheiten und daraus resultierende Veränderungen in den Produktionsgebieten, Änderungen der Essgewohnheiten, die erhebliche Zunahme der Bevölkerung in den Schwellenländern, sowie die zunehmende Verknappung von Anbauflächen sind die Hauptursachen der stark schwankenden Rohstoffpreise», schriebExterner Link zum Beispiel der bisherige SVP-Nationalrat (Schweizerische Volkspartei, rechtskonservativ) und neue Bundesrat Guy Parmelin.
«Sicher gibt es viele Faktoren», antwortet Martin Reynard. «Das sind Elemente, die eine Rolle spielen. Es ist aber ebenfalls bewiesen, dass die Spekulation diese Phänomene und Ungleichheiten verstärkt.»
Widersprüchliche Studien
Beide Seiten untermauern ihre Behauptungen mit Studien. Die Unterstützer der Initiative können sich auf internationale Berichte stützen, die den Einfluss der Spekulation auf den Anstieg der Preise zeigen.
Olivier de Schutter, bis 2004 UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, anerkannte in einem BerichtExterner Link die Einwirkungen von Klima und Markt auf die Preisvolatilität. «Dennoch, ein signifikanter Anteil der steigenden Preise und der Volatilität bei Nahrungsrohstoffen kann nicht anders erklärt werden als durch eine spekulative Blase», schrieb er in der Zusammenfassung des Berichts.
Seit der Finanzkrise 2008 soll sich die Situation sogar noch verschlechtert haben. Man habe auf «dem Markt für landwirtschaftliche Derivate auch eine bedeutende Zunahme von Investitionen gesehen, die nicht aus herkömmlichen Kreisen kamen», sei es aufgrund der «Diversifikation von Portfolios oder der Spekulation», heisst es in einem Bericht der OECDExterner Link. «Es ist wahrscheinlich, dass dieses Phänomen auch zum Anstieg der Preise an den Terminmärkten beigetragen hat und den aktuellen Anstieg der Preise auf den Kassamärkten schürt», steht in dem Bericht.
Aber auch die Gegner der Initiative haben wissenschaftliche Argumente zur Hand. So eine gemeinsame StudieExterner Link der Hochschule Luzern und der Universität Basel, die auf eigenen statistischen Untersuchungen sowie der Zusammenstellung der Resultate von etwa hundert anderen Untersuchungen basiert, die zwischen 2009 und 2015 durchgeführt worden waren.
Die von den beiden Institutionen zusammengetragenen Statistiken zeigten, dass Spekulation für höchstens 8 Prozent der Preis- und Volatilitätseffekte verantwortlich sei. Von den weiteren Untersuchungen, die für die Studie analysiert wurden, waren 47% zum Schluss gekommen, dass Spekulation eher den Effekt habe, Märkte zu stabilisieren, 37% kamen zum Schluss, Spekulation habe keinen Einfluss, während 16% befanden, Spekulation treibe die Preise in die Höhe.
Für den Stimmbürger, die Stimmbürgerin wird es also schwierig sein, zu entscheiden, wem man nun glauben soll. In einem aber sind sich Befürworter und Gegner der Initiative einig: Man muss einen kritischen Geist an den Tag legen. «Es ist wünschenswert, dass die Bürger aufmerksam sind, was die Quellen dieser Studien angeht. Um sich ein allgemeines Bild zu machen, muss man verschiedene Quellen evaluieren und kritisch sein», erklärt zum Beispiel Aurélie Haenni, die Westschweizer Sprecherin der freisinnigen Partei (FDP.Die Liberalen – rechtsbürgerlich).
Druck aus dem Ausland
Für die Gegner, für welche die Nahrungsmittelknappheit nicht mit den kritisierten Finanzoperationen verbunden sind, geht die Initiative völlig am Ziel vorbei. Nach den Worten von Guy Parmelin ist das Begehren «ein weiteres wirkungsloses, sozialistisches Rezept». Und Aurélie Haenni erklärt ihrerseits: «Wie gewohnt schlägt die JUSO eine ungeeignete bürokratische und weltfremde Antwort vor.»
Es sei auch naiv zu glauben, die Schweiz könne das Problem allein lösen. «Auch wenn Unternehmen, die im Handel mit Nahrungsmitteln aktiv sind, sich in der Schweiz befinden, so tätigen sie ihre Operationen über Börsenplätze in Chicago oder London. Sie respektieren die Regeln, die an diesen Handelsplätzen gelten. Wenn die Schweiz zusätzliche Normen verfügt, werden solche Unternehmen benachteiligt sein – und ihre Konsequenzen ziehen», erklärt Aurélie Haenni unter Hinweis auf das Risiko der Standortverlagerung.
Für Guy Parmelin würde die Schweiz sich mit einer Annahme der Initiative ins eigene Fleisch schneiden. Man müsste «mit erheblichen Folgen in der Schweiz rechnen, weil die Initiative direkt jene Akteure attackiert, welche im internationalen Handel mit Agrargeschäften etabliert sind. Darüber hinaus würde die Initiative die Unsicherheit über die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land erhöhen und ein negatives Signal für den gesamten Schweizer Werkplatz aussenden», schrieb der künftige Minister in einem Beitrag auf der SVP-Website.
Solche Äusserungen lassen Mathias Reynard kalt. «Das ist ein Argument, das immer wieder kommt, wenn man den Finanzplatz besser, sauberer und ethisch verträglicher gestalten will. Man kann ein Geschäft, das Tote nach sich zieht, nicht rechtfertigen, nur weil Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen: Das geht einfach nicht», sagt er.
Der sozialdemokratische Abgeordnete wirft noch ein anderes Problem auf. «Es gibt einen Trend zu mehr Regulierung, sei dies in Europa oder in den USA. Die Schweiz, wo sich viele solche Unternehmen befinden, muss daher mit gutem Beispiel vorangehen, wenn sie sich nicht in einigen Jahren ein weiteres Mal etwas von aussen aufzwingen lassen will, wenn es dann alle anderen schon getan haben.»
«Wir leben in einer globalisierten Welt, es braucht daher eine gemeinsame Lösung. Dass die Schweiz hier auf einen Alleingang setzt, ist weder wünschenswert, noch angemessen», erklärt ihrerseits Aurélie Haenni.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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