Verspätete Auslandschweizer: Lombardis Abwahl soll untersucht werden
Filippo Lombardi wäre nicht abgewählt worden, hätten alle Wahlberechtigten im Ausland ihre Unterlagen rechtzeitig erhalten. Dieser Verdacht besteht, fehlten ihm doch lediglich 45 Stimmen. Ein Tessiner Anwalt strebt nun eine Untersuchung an. Der Fall könnte auch für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer bedeutend werden.
Die langen Versandzeiten von Wahlunterlagen, die vielen Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern quasi das Wahlrecht verunmöglichen, sorgen im Kanton Tessin für einen Sturm der Entrüstung.
Die Kantonsregierung hat die Gemeinden angewiesen, alle Umschläge mit Wahlzetteln aufzubewahren, die aus dem Ausland erst nach dem Tag des zweiten Wahlgangs für den Ständerat vom 17. November eingegangen sind. Das könnte der Auftakt zu einem Rekurs sein.
Mit dieser Massnahme, die am Mittwoch den Tessiner Medien bekanntgegeben wurde, kam die kantonale Exekutive einer Anfrage nach, die der Präsident der kantonalen AnwaltskammerExterner Link (OATI), Gianluca PadlinaExterner Link, am Vortag gestellt hatte.
Momentan handle es sich noch nicht um einen Rekurs, sondern einfach um «einen Antrag auf Erlangung einer einstweiligen Verfügung, den ich als Privatperson eingereicht habe», sagt Gianluca Padlina gegenüber swissinfo.ch.
Auf diese Weise will er sicherstellen, dass die Umschläge mit den betreffenden Wahlzetteln «einer Justizbehörde zur Verfügung stehen, wenn sie sich mit der Angelegenheit befassen muss».
«Jede Auslandschweizer-Stimme zählt»
Weil er von mehreren wütenden Bürgerinnen und Bürgern aus dem Ausland kontaktiert worden war, die ihr Wahlrecht nicht ausüben konnten, weil sie die Dokumente zu spät erhalten hatten, fordert er, dass die Geschehnisse vollständig aufgeklärt werden.
«Einen ersten Bericht habe ich am Sonntagmorgen erhalten. Dann häuften sich die Meldungen. So erzählten mir beispielsweise in England lebende Tessiner, dass sie das Wahlmaterial erst am 13. oder 14. November erhalten hätten», so der Anwalt, der auch Stadtrat der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) in Mendrisio ist. Lombardi sass während 20 Jahren für diese Partei im Ständerat des Eidgenössischen Parlaments.
Das Interesse an Aufklärung ist doppelter Natur. Einerseits ist da das WahlresultatExterner Link, denn die Eroberung der beiden Ständeratssitze für den Kanton Tessin wurde wahrlich hauchdünn entschieden: Die Sozialdemokratin Marina Carobbio Guscetti hatte lediglich 45 Stimmen mehr als der Christdemokrat Filippo Lombardi, der damit nach fünf Amtsperioden in der kantonalen Kammer abgewählt wurde.
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Der Vater des Auslandschweizer-Gesetzes muss gehen
«Bei einer so knappen Wahl kann man nicht nur sagen, dass jede Stimme zählt, sondern auch, dass jede Stimme der Wählerinnen und Wähler im Ausland zählt», sagt Padlina.
Speziell in diesem Fall, wenn man bedenkt, dass Lombardi in der Fünften Schweiz einen exzellenten Ruf geniesst: Er ist Vizepräsident der Auslandschweizer-Organisation (ASO) und hat sich in seinen zwanzig Jahren als Mitglied des Parlaments ständig für den Schutz der Rechte der Schweizer Diaspora eingesetzt.
Wahlrecht nicht nur auf dem Papier
Andererseits geht es auch darum, dass Verfassung und Gesetz geachtet werden: «Es ist wichtig, dass das Stimm- und Wahlrecht für Tessiner und Tessinerinnen im Ausland nicht nur auf dem Papier existiert, sondern auch wirklich ausgeübt werden kann», betont der Anwalt.
Er hofft, dass sein Antrag dazu dient, auf die Bedeutung des Problems und die Notwendigkeit einer unverzüglichen Lösung hinzuweisen. «Wir müssen diese Gelegenheit nutzen, um gründlich darüber nachzudenken und geeignete Massnahmen zu ergreifen.»
Padlina fordert nun genaue Kontrollen, um abklären zu können, was beim zweiten Wahlgang am 17. November passiert ist, und um das Ausmass des Problems der im Ausland lebenden Bürgerinnen und Bürger zu messen, die ihr Wahlmaterial nicht rechtzeitig erhalten haben.
Besonders hält er es für notwendig, festzustellen, wann genau die Gemeinden das Wahlmaterial verschickt haben, wie viele Tessinerinnen und Tessiner im Ausland im ersten und zweiten Wahlgang gewählt haben und wie viele vor dem Tag der Wahl zurückgeschickte Wahlzettel erst später eingetroffen sind.
Seiner Ansicht nach sollte die endgültige Lösung in Richtung der elektronischen Abstimmung gehen, sobald ein sicheres System zur Verfügung steht. In der Zwischenzeit allerdings müsse der Kanton die Zeit für den Versand des Wahlmaterials so berechnen, dass im Ausland lebende Tessinerinnen und Tessiner dieses fristgerecht erhalten können.
«Artikel 18 des kantonalen Gesetzes über die Ausübung der politischen RechteExterner Link (LEDP) hält klar fest, dass jeder Wahlberechtigte das Material spätestens vier Wochen vor dem Tag der Abstimmung oder Wahl und zehn Tage vor dem Tag eines zweiten Wahlgangs bei sich zu Hause erhalten muss», sagt der Anwalt.
Weiterer Beweis eines verschleppten Problems
Gegenwärtig schätzt Padlina die Situation ein und sammelt Zeugenaussagen von Tessinerinnen und Tessinern im Ausland, welche die Wahlunterlagen verspätet erhalten haben, um zu entscheiden, ob er beim Bundesgericht Berufung einlegen soll.
Derweil bekräftigt Lombardi gegenüber swissinfo.ch, er habe nicht die Absicht, die Wahl zu überdenken oder Berufung einzulegen, auch nicht im Hinblick auf die Beschwerden von Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern, die faktisch von der Wahl ausgeschlossen worden seien.
«Aber als ASO-Vizepräsident ist diese Situation für mich ein Beweis dafür, was wir seit zwanzig Jahren anprangern», sagt Lombardi. Für viele Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer ist das E-Voting also unerlässlich, denn die Langsamkeit der Postzustellung ermöglicht es ihnen nicht, per Post zu wählen oder abzustimmen.
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(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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