«Ein ambivalentes Verhältnis zu China»
China ist trotz weltweiter Krise und Rezession auf ungebremstem Wachstumskurs und hat Deutschland den Rang als Exportweltmeister abgelaufen. Der langjährige China-Korrespondent Peter Achten zu den Veränderungen im Reich der Mitte in den letzten 20 Jahren.
swissinfo.ch: In Ihren Reportagen haben Sie über die Angst Europas vor dem wirtschaftlichen Sprung Chinas berichtet. Trifft das auch für die Schweiz zu?
P.A.: Es ist ein ambivalentes Verhältnis. Auf der einen Seite ist es Angst oder Furcht, auf der anderen Seite ist es auch Bewunderung – also sehr zwiespältig.
Was viele nicht begriffen haben in der Schweiz und in Europa ist, dass die globalisierte Wirtschaft kein Nullsummenspiel ist. Mit anderen Worten, wenn China gewinnt, verliert der Westen nicht. Wenn alle Beteiligten innerhalb der Welthandels-Organisation WTO und der UNO nach denselben Regeln spielen, dann profitieren alle davon, China genauso wie die USA und Europa. Ich glaube, das ist die Zukunft.
swissinfo.ch: Denkt man in der Schweiz so?
P.A.: Ich glaube, die Wirtschaftsführer in der Schweiz haben das schon begriffen. Die Schweizer Grossbanken sind in China mit Leuten vertreten, die das Land sehr gut verstehen. Es ist eher die öffentliche Meinung, die skeptisch ist. Aber die Wirtschaftsführer wissen, was in China, in Asien vor sich geht.
swissinfo.ch: Was sagen Sie zum Zensurkonflikt zwischen China und Google?
P.A.: Überall, wo es eine kommunistische Partei gibt, die an der Macht ist, will sie auch die Kontrolle über die Information. Im Fall des Internets wird dies der KP Chinas allerdings schwer gelingen.
Aber die Öffnung wird auch im Bereich der Information weitergehen, und zwar deshalb, weil man eine moderne Volkswirtsschaft – und das ist China heute – nicht ohne einen freien Fluss von Informationen betreiben kann.
swissinfo.ch: Welche Erfahrungen haben Sie als Korrespondent in China selbst mit Medienfreiheit bzw. Zensur gemacht?
P.A.: Ich hatte eigentlich nie Schwierigkeiten. Als ich kurz vor den Olympischen Spielen 2008 chinesische Wanderarbeiter interviewte, wurde ich zwar von Polizisten aufs Kommissariat geführt. Ich habe ihnen erklärt, dass es die chinesische Regierung erlaubt, ohne Bewilligung ganz gewöhnliche Leute zu interviewen. Da liessen sie mich gehen. Vor 10, 20 Jahren wäre das nicht möglich gewesen.
Als ich 1986 erstmals als Journalist nach China kam, musste ich für jede Reise ausserhalb von Peking eine ausdrückliche Bewilligung der Regierung haben. Heute kann ich in ganz China herumreisen, ohne irgendwelche Einschränkungen, natürlich mit Ausnahme von Tibet und Xinjiang, der Region, in der die Uiguren leben.
Aber für die chinesischen Berufskollegen ist die Pressefreiheit noch ziemlich eingeschränkt, die müssen aufpassen, was sie schreiben. Was ich an den jungen chinesischen Kolleginnen und Kollegen bewundere: Die haben noch ein waches Bewusstsein, was Pressefreiheit ist. In der Schweiz ist dieses Bewusstsein schon lange weg. Hier kann jeder machen, was er will, es herrscht die totale Beliebigkeit.
swissinfo.ch: Sie waren 1986 zum ersten Mal in China. Welches ist die grösste Veränderung, die sie in den letzten 24 Jahren erlebt haben?
P.A.: Der Lebensstandard der chinesischen Bevölkerung hat sich gewaltig verbessert – und damit auch die Würde der Menschen in China. Natürlich gibt es noch Armut, aber die Armen werden nicht ärmer, auch die Bauern leben besser.
swissinfo.ch: Wie steht es mit den Menschenrechten?
P.A.: Wenn ich die Situation heute mit jener von 1986 vergleiche, dann ist das wie Tag und Nacht. Vor 15 Jahren konnte ich als Ausländer noch nicht privat mit einem chinesischen Freund zu Hause sitzen. Im privaten Kreis kann heute auch ein Chinese über die Regierung und die Partei fluchen – solange er nicht auf die Strasse geht oder auf den Tiananmen-Platz und ruft, nieder mit der Partei.
Die Schweizer sagen immer, Menschenrechte seien unteilbar, es gebe sie oder es gebe sie nicht. Ich sage immer, es gibt auch bei den Menschenrechten eine Entwicklung.
Ich verweise immer wieder auf das Beispiel der USA: In den 50er-Jahren, als ich als junger Mann in Amerika war, da konnten Weisse und Schwarze noch nicht zusammen in einem Restaurant sitzen. Und heute haben wir in den USA einen schwarzen Präsidenten, was man vor 30 oder 20 Jahren noch für unmöglich gehalten hätte. Punkto Menschenrechte gibt es eben eine Entwicklung, und eine solche ist in China ganz klar zu sehen.
swissinfo.ch: China hat sich in den letzten 24 Jahren also stark verändert. Und die Schweiz?
P.A.: Die hat sich natürlich auch verändert, einfach nicht so schnell wie China. Das ist auch einfach zu erklären: Die Schweiz ist wirtschaftlich schon auf einem sehr hohen Niveau, da ist natürlich der Bedarf nach Veränderungen nicht so gewaltig, wie das in China der Fall war, bei der Ablösung der Planwirtschaft durch die Marktwirtschaft chinesischer Prägung.
Was mir hier auffällt ist, dass viele Schweizer so pessimistisch sind. Ich habe zum Beispiel die Neujahrsbotschaft von Staats- und Parteichef Hu Jintao im Fernsehen gesehen. Die Botschaft war würdevoll und trotzdem locker. Dann habe ich die Neujahrsbotschaft unserer Bundespräsidentin Doris Leuthard gesehen. Sie war zwar auch würdevoll, aber im Gegensatz zu jener von Hu ziemlich verkrampft. Ihre Botschaft, nicht die verbale, sondern die nonverbale, war vorsichtiger Pessimismus. Hu hingegen brachte vorsichtigen Optimismus rüber. Das ist der Unterschied.
Ting Song, swissinfo.ch
Peter Achten, geboren 1939 in Basel, lebt und arbeitet in Peking. Er ist seit 1967 journalistisch tätig.
Seine Karriere begann er bei der «National-Zeitung» und den «Basler Nachrichten» als Lokalredaktor, arbeitete später als Radio-Korrespondent aus Madrid. 1974 wechselte er zum Schweizer Fernsehen, wo er Produzent/Moderator der «Tagesschau» und Mitglied der Chefredaktion wurde.
Mit Sitz in Peking, Hanoi und Hongkong arbeitete Achten ab 1986 als Fernost-Korrespondent für Schweizer Radio DRS sowie verschiedene Schweizer Tageszeitungen.
Zwischen 1990 und 1994 war er in Washington USA-Korrespondent für SF DRS.
Von 1997 bis 1999 war er Chief Representative für Ringier in Vietnam.
Von 1999 bis 2008 war Peter Achten Asien-Korrespondent für Schweizer Radio DRS sowie für Ringier-Titel und Chefredaktor des Wirtschaftsmagazins «China International Business».
Spektakulär waren seine Radio-Reportagen über den blutig niedergeschlagenen Volksaufstand im Frühjahr 1989 auf dem Tiananmen-Platz in Peking, den Tsunami in Banda Acah 2004 und den Zyklon in Burma 2008.
Heute arbeitet Peter Achten als freier Asien-Korrespondent mit Sitz in Peking.
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