Ein anerkanntes Palästina – aber welches Palästina?
Wird Palästina als 194. Mitglied in die UNO aufgenommen werden? Was für einen Staat wollen die Palästinenser und welche Folgen hätte er für die Region? swissinfo.ch hat mit Giancarlo de Picciotto gesprochen, Leiter des Kooperationsbüros der Deza in Jerusalem.
Auf den wenigen Einkaufsstrassen, die im Osten Jerusalems noch als solche bezeichnet werden können, ist wenig zu spüren von der bevorstehenden Aufnahme Palästinas in die UNO-Generalversammlung.
Gleich hinter der Mauer, in Ramallah, sieht es etwas anders aus: Ab und zu sieht man Autos mit palästinensischen Flaggen und der Zahl 194 vorbeifahren, einige Läden verkaufen Kaffeetassen oder Ballone mit aufgedruckter Nationalflagge. Und am Samstag gab es Demonstrationen in Qalandiya, dem wichtigsten Checkpoint zwischen Ramallah und Jerusalem.
Die Mehrheit der Palästinenser steht laut einer am Dienstag publizierten Umfrage hinter dem Antrag zur Anerkennung der Staatlichkeit. Doch die Menschen wissen sehr genau: Ob Palästina nun eine eigene Nation ist oder nicht, an der israelischen Besatzung des Westjordanlands wird sich vorerst nichts ändern.
Die intellektuelle Elite ist sowieso dagegen, dass zum jetzigen Zeitpunkt ein Staat ausgerufen wird. Sie möchte viel eher eine Debatte darüber führen, wie so ein Staat auszusehen hat, was er seinen Bürgern bieten sollte und wie man in Zukunft mit seinen Nachbarn, allen voran natürlich Israel, umgehen will.
Was ist ein Staat?
Giancarlo de Picciotto dürfte dies freuen, denn genau solche Fragen stellen er und sein Team den palästinensischen Partnern regelmässig. De Picciotto ist Leiter des Kooperationsbüros der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) in Jerusalem und die Unterstützung beim Aufbau eines demokratischen und überlebensfähigen Staates Palästina seine vorrangige Aufgabe.
«Wenn Palästina das 194. Mitglied der UNO wird – und so sieht es heute aus – dann wird sich die Qualität der Beziehungen zu unseren palästinensischen Partnern sicherlich verändern», erklärt de Picciotto im Gespräch.
«Die Palästinenser müssen sich darüber im Klaren sein, welche Art von Staat sie haben wollen. Wird es ein Zweikammerparlament geben? Welchen Dialog strebt die Regierung mit den Bürgern an? Welchen Zugang haben die Bürger zur Justiz? Welche Art von Verfassung wird Palästina haben? All diese Fragen muss die zukünftige politische Elite relativ schnell beantworten können.»
Die Schweiz in Jerusalem
Die Schweiz unterstützt die Palästinenser dabei, indem sie seit 1994 mit einem eigenen Büro in Ost-Jerusalem vertreten ist. So stehen die internationalen und lokalen Mitarbeiter des Kooperationsbüros einerseits in ständigem Kontakt mit der Menschenrechtskommission, dem Landwirtschaftsministerium und dem Büro für Statistik der Palästinensischen Autonomiebehörde, die Teile des Westjordanlandes verwaltet.
Anderseits sprechen die Deza-Leute aber auch mit Frauenverbänden und mit Vertretern aus der Wirtschaft und unterstützen kulturelle Initiativen. Zurzeit befinden sich gerade zwei Mitarbeiter des Kulturzentrums Rote Fabrik vor Ort, die im November Kulturschaffende aus Palästina nach Zürich einladen möchten.
«Wir legen viel Wert auf eine starke Zivilgesellschaft, ohne den Aufbau staatlicher Strukturen zu vernachlässigen», sagt de Picciotto. «Das Zusammenspiel zwischen den Akteuren ist schliesslich das, was einen Staat funktionstüchtig macht. Und wir als Schweizer können da einen wichtigen Teil beitragen.»
Wo liegt Palästina?
Wo genau das zukünftige Palästina liegen soll, darüber gehen die Meinungen auseinander. Laut internationaler Lesart – und an diese Auslegung halten sich praktisch alle Staaten, auch die USA – hält Israel seit 1967 jene Gebiete besetzt, die dereinst zum Staat Palästina werden sollen, nämlich das Westjordanland, Gaza und den Ostteil der Stadt Jerusalem.
«Ja, auch Ost-Jerusalem ist besetztes palästinensisches Gebiet. Deshalb hat die Schweiz ihr Kooperationsbüro für Palästina 1994 hier errichtet», sagt Giancarlo de Picciotto.
Dass die Deza auch heute noch in Ost-Jerusalem arbeiten darf, hat sie dem damaligen Aussenminister Joseph Deiss zu verdanken, der 2001 durch diplomatisches Geschick bei Israel erwirken konnte, dass das Schweizer Büro für Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit mit Palästina in Jerusalem bleiben darf, während die Büros der meisten anderen Staaten nach Ramallah, ins Verwaltungszentrum der Palästinensischen Autonomiebehörde, verlegt wurden.
Ein Flickenteppich
Das Westjordanland gleicht einem Flickenteppich, seit es 1993 bei den Verhandlungen in Oslo in drei verschiedene Gebiete aufgeteilt wurde. In Zone A ist die Palästinensische Autonomiebehörde zuständig. Sie umfasst Städte wie Ramallah, Bethlehem, Nablus und Jericho.
Zone B wird von Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde gemeinsam verwaltet. Und Zone C, die über 60 Prozent des gesamten Westjordanlandes umfasst, steht unter vollständiger Kontrolle der israelischen Armee.
«In dieser Zone C leben viele Beduinen, die meisten seit mehreren Generationen», erklärt de Picciotto. «Laut Genfer Konvention ist Israel als Besatzungsmacht verpflichtet, der Bevölkerung Zugang zu Bildung zu garantieren. Weil Israel aber sagt, dass die Genfer Konvention auf das Westjordanland nicht anwendbar ist und den Beduinen deshalb keine Schulen baut, werden diese von der internationalen Gemeinschaft errichtet. Wenn diese Schulen dann aber von der israelischen Armee zerstört werden, was häufig geschieht, sind wir empört. Dabei sollten wir uns besser bei der Besatzungsmacht dafür einsetzen, dass diese das Völkerrecht respektiert und die erforderliche soziale Infrastruktur für alle Teile der Bevölkerung errichtet.»
Miteinander sprechen
Diesen Dialog aufrecht zu erhalten, sei nicht immer einfach, meint de Picciotto, vor allem dann nicht, wenn man unangenehme Dinge ansprechen müsse. «Aber die Schweiz als neutrales Land kann mit allen Seiten sprechen, und das sollte sie auch tun. Denn wir sind hier, weil die Weltgemeinschaft 1948 entschieden und 1993 in Oslo bekräftigt hat, dass das palästinensische Volk, genauso wie alle anderen Völker auch, das Recht auf einen eigenen Staat hat.»
Die für Freitag angekündigte Abstimmung im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung der UNO in New York wird den Konflikt um das Heilige Land – ein Begriff, den die Mehrheit der Leute hier nur noch mit zynischem Unterton über die Lippen bringt – nicht beenden. «Uns wird die Arbeit sicher nicht ausgehen», sagt Giancarlo de Picciotto zum Schluss. «Wir können uns als Schweiz gar nicht leisten, hier nicht präsent zu sein. Dies ist ein global ausstrahlender Konflikt. Und wir wollen unseren Anteil dazu beitragen, dass es hier im Nahen Osten dereinst einen dauerhaften Frieden geben wird.»
Die Deza unterstützt palästinensische Flüchtlinge seit der Gründung des Staates Israel und der damit verbundenen Vertreibung der Palästinenser ins heutige Westjordanland, nach Gaza, Jordanien, Libanon und Syrien.
2010 hat die Deza ihr Engagement für einen «demokratischen und lebensfähigen Staat Palästina» erneut bekräftigt, wie Direktor Martin Dahinden im Strategiebericht für die Region ausführt.
Bis 2014 wird die Schweiz mit im internationalen Vergleich bescheidenen 22 Mio. Fr. pro Jahr die Zivilgesellschaft, die Landwirtschaft und den Aufbau staatlicher Strukturen in Palästina fördern.
Giancarlo de Picciotto (53) ist als Sohn einer Griechin und eines Italieners in Italien und in der Schweiz aufgewachsen. Er hat an der ETH in Zürich Agrarwissenschaften studiert.
Danach hat de Picciotto, der 6 Sprachen spricht, in den Vereinigten Arabischen Emiraten einen Bauernhof geführt und für die Welternährungs-Organisation FAO in Rom und Moçambique gearbeitet, bevor er für die Deza 15 Jahre lang sowohl am Hauptsitz in Bern als auch und «im Feld» für Lateinamerika zuständig war.
Seit 2009 leitet er das Kooperationsbüro der Deza in Jerusalem.
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