«Ein politischer Knall»
So knapp am Sonntag das Ja zur Begrenzung der Einwanderung an der Urne ausfiel, so kontrovers wurde am Montag das Resultat von der Schweizer Presse aufgenommen. Die Stimmen reichen vom Hohelied auf SVP und Volk bis zu grossen Fragezeichen hinter Stabilität und Prosperität des Landes.
56% der Schweizer Stimmberechtigten gingen am Sonntag an die Urne, 50,3% von ihnen sagten Ja zur Initiative «gegen Masseneinwanderung». Darin verlangt die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) die Kontrolle der Zuwanderung mittels Wiedereinführung von Kontingenten.
Diese sind eine offene Kampfansage an den freien Personenverkehr und das gesamte Paket der Bilateralen Verträge I, welche die Schweiz mit der Europäischen Union abgeschlossen hat.
«Ein politischer Knall», titelt Der Bund. «Das innenpolitische Gerüst, das in den letzten 20 Jahren die schweizerische Europapolitik getragen hat, ist am Wochenende eingestürzt.»
Landfrass, Lohndruck, Konkurrenzkampf, hohe Mieten – vieles habe bewirkt, dass die Lust, ein Protestzeichen zu setzen, grösser gewesen sei als die Angst vor Ärger mit der EU und allfälligem Schaden für die Wirtschaft.
«Nebst handfesten Folgen in Grenzregionen und bestimmten Branchen löst die hohe Zuwanderung ein Gefühl des Kontrollverlusts aus, was in der direkten Demokratie nicht folgenlos bleibt», so die Zeitung aus Bern
«Dieses Ja wird uns jahrelang beschäftigen», prophezeit der Tages-Anzeiger.
Schwerwiegender als die unklare Zukunft im Verhältnis zur EU sei das Zeichen der Fremdenfeindlichkeit, das die Schweiz an diesem 9. Februar 2014 in die Welt ausgesandt habe. «Zersiedelung, Lohndruck, Ökobelastung, Migrationsdruck – viele Probleme, die ausserhalb der SVP-Basis zum Ja geführt haben, sind real», so der Tagi.
«Kommt dazu, dass eine Mehrheit von Schweizerinnen und Schweizern nun einer Partei gefolgt ist, die in der Vergangenheit immer wieder mit fremdenfeindlichen Vorstössen und Aussagen aufgefallen ist und nun so etwas wie die europäische Speerspitze jener xenokritischen oder gar xenophoben Bewegungen werden könnte, die es in allen EU-Staaten gibt.»
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Keine Politik gegen die Bevölkerung
Auch der Blick sieht Sorgen der Schweizer Bevölkerung als Ursache für das Votum. «Die Realität ist: Die direkte Demokratie der Schweiz hat die zentrale Problematik unserer Zeit ans Licht gezerrt. Grenzenloser Naturverbrauch, unkontrollierter Verkehr, endloses Wirtschaftswachstum überfordern die Menschen. Und dies manifestiert sich im Kleinstaat Schweiz an der massiven Zuwanderung.»
Hier existiere das Ventil der direkten Demokratie, das die EU nicht kenne, so die Boulevardzeitung. «Die Erkenntnis des Schweizer Urnengangs müsste jedoch in Brüssel und in Bern die gleiche sein: Gegen die Bevölkerung lässt sich langfristig keine Politik betreiben – auch in der EU nicht.»
Auch die Neue Zürcher Zeitung wertet das Verdikt als «Unbehagen im Kleinstaat», das den Bundesrat zu einer «migrationspolitischen Spitzkehre» zwinge. «Das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative stellt eine Zäsur dar, die vergleichbar ist mit jener vom 6. Dezember 1992 – dem Nein zum EWR», so die NZZ. Was das Verdikt für das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU bedeute, sei völlig offen – «von Gutem aber wird es für die hiesige Wirtschaft und damit für den Wohlstand in diesem Land sicher nicht sein.»
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Siegestrunken
«Anmerkungen zu einem Erdbeben», überschreibt die Basler Zeitung ihren Kommentar, in dem sie den Sieg der SVP feiert. Oder vielmehr die Niederlage von Wirtschaft und Bundesrat. Die Wirtschaftsverbände, also Economiesuisse und Arbeitgeberverband, hätten «vermutlich die härteste Niederlage seit Menschengedenken» erlitten.
«Wäre ich Mitglied in einem dieser Verbände, ich würde die Selbstauflösung empfehlen. Wie kann man als Wirtschaft die Stimmung der Bevölkerung im Land dermassen falsch einschätzen? Wo leben diese Leute? Auf dem Mond oder schon auf dem Mars?», fragt der BaZ-Chefredaktor, ein enger Vertrauter des SVP-Chefstrategen und –mäzens Christoph Blocher, süffisant.
Zum zweiten «krachenden Verlierer» erklärt er den Bundesrat. «Auch der Bundesrat leidet unter einer Art Weltfremde, die umso bemerkenswerter ist, als diese Männer und Frauen sehr viel Zeit für Reisen in alle Welt einsetzen. Es macht sie aber weder realistischer noch weltläufiger. Bundespräsident Burkhalter kam frisch aus Sotschi zurück, um an der Pressekonferenz des Bundesrates aufzutreten.»
Das Abkommen über den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU ist 2002 in Kraft getreten und bildet einen Kernpunkt innerhalb der Bilateralen Abkommen I.
Mit dem Abkommen erhalten Staatsangehörige der Schweiz und der EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich das Recht, Arbeitsplatz und Aufenthaltsort innerhalb der Staatsgebiete der Vertragsparteien frei zu wählen.
Das Schweizer Stimmvolk hat bisher dreimal über die Personenfreizügigkeit abgestimmt: Im Mai 2000 hat es die Bilateralen I und damit auch das Personenfreizügigkeitsabkommen mit grosser Mehrheit gutgeheissen.
Im Jahr 2005 sagten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Ja zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die zehn Staaten, die 2004 der EU beigetreten waren.
2009 wurde auch die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien vom Volk gutgeheissen.
Voraussichtlich im Herbst 2014 wird sich das Stimmvolk zur geplanten Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf das EU-Neumitglied Kroatien äussern.
Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind in 20 bilateralen Abkommen und in rund 100 weiteren Verträgen geregelt.
Abgesang von Weltoffenheit
«Dieser Abstimmungssonntag geht in die Geschichtsbücher ein», frohlockt das St. Galler Tagblatt und erklärt das bisherige Erfolgsrezept der Schweiz, «eine grundsätzliche Weltoffenheit, eine nach wie vor liberale Wirtschaftsordnung und insbesondere die enge, zum gegenseitigen Vorteil ausgestaltete Verflechtung mit der Europäischen Union», kurz und bündig für nicht mehr mehrheitsfähig.
«Dieser Coup der nationalkonservativen Rechten» komme nicht von ungefähr. «Das Schweizer Volk hatte sich bisher zwar zuverlässig für den bilateralen Weg und für die Personenfreizügigkeit ausgesprochen. Das hat die Verteidiger dieser Errungenschaften aber träge gemacht: Die politische Elite hat lange mit einer gewissen Nonchalance tatsächlich negative Auswirkungen der konsequenten Personenfreizügigkeit auf die leichte Schulter genommen und kleingeredet», so das St. Galler Tagblatt.
«Der Protest der Enttäuschten», titelt die Freiburger Nachrichten und spricht vom «aussenpolitisch wohl wichtigsten Entscheid seit der EWR-Abstimmung 1992». Die SVP habe legitime Fragen aufgeworfen und weitverbreitete Ängste thematisiert. «Die gemässigten bürgerlichen und wirtschaftsliberalen Kräfte sind zu lange nicht auf diese Skepsis in der Bevölkerung eingegangen. Und so haben nun die Enttäuschten und die Misstrauischen obenaus geschwungen.» Das Abstimmungsresultat zeige, dass auch im Mittelstand die Vorbehalte gegenüber der Zuwanderung zugenommen hätten.
Auftrieb für Europas Rechte
«SVP sieht sich als Avantgarde in Europa», schreibt die Neue Luzerner Zeitung. «Sowohl gestern als auch vor gut 21 Jahren kassierten Bundesrat, die Wirtschaftsverbände und die Mehrheit der Parteien eine schallende Ohrfeige. Und niemand kann genau sagen, wie sich das Abstimmungsresultat auf die Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz auswirken wird.»
20minuten legt den Fokus auf den engen Ausgang: «19’500 Stimmen gaben den Ausschlag», so das Gratisblatt.
Angesicht der anstehenden «heiklen Entscheiden» macht die Aargauer Zeitung in der Regierung Konsternation aus. «Der Bundesrat hat nun drei Jahre Zeit, Kontingente einzuführen. Unklar ist weiter, wer die Kontingente definiert – Bundesrat, Parlament oder Sozialpartner und Kantone – und wie diese auf Kantone oder Branchen aufgeteilt werden.» Brüssel werde eng verfolgen, wie die Schweiz dabei vorgehe. «Im schlimmsten Fall kündigt Brüssel die bilateralen Verträge», hält die Zeitung lapidar fest.
Geteiltes Land
«Röstigraben: Westschweiz ist besorgt», erkennt Der Landbote. «Alle Westschweizer Kantone lehnten das Volksbegehren der SVP ab. Aus der Deutschschweiz finden sich neben Basel-Stadt nur Zürich und Zug im Nein-Lager. Nach Jahren der Einigkeit sind Deutsch- und Westschweiz in der Europafrage damit deutlich auseinandergedriftet», hält die Zeitung aus Winterthur fest.
Die Westschweizer Zeitungen prophezeien nun schwierige Verhandlungen mit der EU. Die Tribune de Genève nennt die Rückkehr der Schweiz zur Kontingentierung » eine schallende Ohrfeige für Europa». Als Reaktion auf diese «Verschlechterung» seien nun «Genie und Pragmatismus» gefragt. Die Bedürfnisse von Kantonen und Unternehmen dürften nicht von Kontingenten eingeschränkt werden.
Hart ins Gericht mit der Deutschweiz geht Le Matin. «Dieser Sonntag des 9. Februars geht in die Geschichte unseres Landes ein als der Tag, an dem sich die Deutschschweiz auf ihre kleinen Gewissheiten zurückgezogen hat, voller Neid auf ihre nostalgischen Privilegien, die nur noch in den Bildern Albert Ankers existieren.»
Das «Lächerlichste dieser ärgerlichen Geschichte» besteht für die Zeitung aus Lausanne darin, dass ausgerechnet «die Kantone der Deutschschweiz, die am wohlhabendsten sind und die am wenigsten unter Arbeitslosigkeit leiden, keine oder kaum Wohnungsnot kennen noch überfüllte öffentliche Verkehrsmittel, welche diese widerliche Abstimmung in sich hineingestopft haben.»
24 heures sieht mit dem Votum die «Verbindungen von Institutionen und jenem Teil der Bevölkerung gekappt, der den populistischen Sirenengesängen der SVP erliegt und ins Ungewisse springt in der Annahme, Sicherheit gewählt zu haben.»
Für die Zeitung aus Lausanne ist das Verdikt eine «erfundene grosse Krise», welche die «andere, rationalere Schweiz, die mehr Vertrauen in die Zukunft hat, in Bedrängnis bringe.
«Sieg der Demokratie»
Eine hauchdünne Mehrheit der Schweizer habe sich für eine Umkehr entschieden, schreibt La Liberté. «Zu schnelles Wachstum der Bevölkerung, Krise auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt, überfüllte Verkehrsmittel: Es ist schwierig, solch konkret erfahrbaren Problemen – welche die Behörden und Unternehmer unterschätzten – die Zahlen der gutgehenden Wirtschaft gegenüber zu stellen», so die Zeitung aus Freiburg.
Als einzige Westschweizer Zeitung zeigt Le Courrier Verständnis für jene, die Ja stimmten. Die Genfer Zeitung erkennt im Ergebnis auch «ein Signal jener Schweiz, die leidet, die kaum weiss, wie sie es bis zum Ende des Monats schafft und die Angst vor der Zukunft hat.»
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