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Ein Schweizer Tool trickst die russische Zensur aus

Wikipedia-Startseite
Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine nutzen viele russische Internetnutzende die Schweizer Software Kiwix, um die gesamte Enzyklopädie von Wikipedia herunterzuladen, da sie befürchten, dass diese bald verboten werden könnte. © Keystone / Christian Beutler

Die Schweizer Software Kiwix ermöglicht es, ganze Websites zu kopieren, um sie offline zugänglich zu machen. Während Wikipedia in Russland wegen seiner Inhalte über den Krieg gegen die Ukraine Sanktionen drohen, brechen die Downloads der Enzyklopädie über Kiwix alle Rekorde.

Die partizipative Enzyklopädie Wikipedia ist eine der wenigen Informationsquellen über den Krieg in der Ukraine, die in Russland noch unzensiert sind. Aber sie ist ins Visier des Kremls geraten.

Ab dem 1. März hat Wikimedia, die amerikanische Stiftung, die Wikipedia hostet, «mehrere Warnungen von der russischen Regierung erhalten (…), in denen die Löschung von verifizierten und sachlichen Informationen in Artikeln gefordert wurde», so eine Sprecherin in einer E-Mail an SWI swissinfo.ch.

Die russische Kommunikationsbehörde Roskomnadzor hat Wikipedia unter anderem Seiten vorgeworfen, die von einer «russischen Invasion in der Ukraine» sprechen, obwohl es illegal sei, von der offiziellen Terminologie abzuweichen. Diese besagt, dass es sich um eine «militärische Spezialoperation» handle.

Am 5. April forderte Roskomnadzor die Website erneut auf, «Material mit unrichtigen Informationen» zu entfernen, unter Androhung einer GeldstrafeExterner Link von bis zu vier Millionen Rubel (44’000 Schweizer Franken).

Bisher behauptet Wikipedia, keiner Anordnung Folge geleistet zu haben. «Diese wiederholten Anfragen ändern nichts an unserer Verpflichtung, das Recht (…) zu schützen, freie, offene und überprüfbare Informationen zu finden und zu teilen», schreibt die Sprecherin der Stiftung.

Viele befürchten jedoch, dass dieser Widerstand letztendlich dazu führen könnte, dass die Plattform in Russland verboten wird, wie dies bereits bei Twitter, Facebook oder Instagram der Fall ist.

Externer Inhalt

Downloads 50-fach erhöht

Dieser Informationskrieg ist ein Booster für die Nutzung von KiwixExterner Link, einer Schweizer Software, die mit mehreren Innovationspreisen ausgezeichnet wurde. Völlig kostenlos kopiert sie ganze Websites, komprimiert diese und ermöglicht es, sie auf ein Medium herunterzuladen, um sie offline zu konsultieren – sei es auf Computer, Smartphone oder USB-Stick.

Kiwix stellt eine Bibliothek mit etwa 8000 Websites zur Verfügung, die ausschliesslich aus dem Bildungsbereich stammen. Darunter befinden sich unter anderem TED-KonferenzenExterner Link, die Gutenberg-BuchhandlungExterner Link, medizinische Enzyklopädien und – am gefragtesten – Wikipedia.

Als Reaktion auf die Drohungen von Roskomnadzor «wurde auf der russischen Version von Wikipedia ein Banner veröffentlicht, das vor einer möglichen Sperrung der Seite warnte und auf Kiwix als Ausweichmöglichkeit verwies», sagt Stephane Coillet-Matillon, Generaldirektor der Organisation Kiwix mit Sitz in Lausanne. «Von einem Tag auf den anderen explodierten unsere Downloads.»

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat sich das Gesamtvolumen der Downloads über die Plattform verdreifacht. Der Traffic aus Russland macht mittlerweile fast 40% aus, gegenüber nur 2% zu Beginn des Jahres. Die Downloads von Wikipedia auf Russisch haben sich sogar um das 50-Fache erhöht.

«Wir haben 5000 neue Nutzerinnen und Nutzer pro Tag, und 90% der Personen, die uns heute auf dem Smartphone nutzen, sind in Russland ansässig», sagt Coillet-Matillon. Im Vergleich zu den Anfängen von Kiwix ist das für ihn ein «echter Paradigmenwechsel».

Mann mit Bart
Stephane Coillet-Matillon, Direktor von Kiwix. Kiwix

Kiwix im Höhenflug

In ihren Anfängen im Jahr 2007 war die Software ein Nebenprojekt für die Informatiker Renaud Gaudin und Emmanuel Engelhart – die auch heute noch zum Kiwix-Team gehören. Die beiden bezeichnen sich als «liberalistische» Entwickler, also Aktivisten für den freien Zugang zu Wissen, die überzeugt sind, dass die digitale Kluft kein unabwendbares Schicksal ist.

Die Technologie wurde 2016 nach einem Gespräch mit Coillet-Matillon, dem damaligen Leiter der Schweizer Niederlassung von Wikimedia, in eine neue Dimension gehoben. Als er um finanzielle Unterstützung gebeten wurde, erkannte er das Potenzial der Software.

Zu diesem Zeitpunkt verzeichnete das Programm bereits fast eine Million Downloads pro Jahr. «In diesem Moment dachte ich, dass es nicht mehr nur ein kleines Projekt sein kann, das man in seiner Freizeit macht», erinnert er sich.

Weniger als ein Jahr später wurde der Verein Kiwix gegründet, um dem Tool zum Durchbruch zu verhelfen. Coillet-Matillon übernahm die Leitung, aber die Verbindung zu Wikimedia bleibt stark. Fast 40% des Jahresbudgets der Organisation wird von der Mutterstiftung in den USA finanziert, die auch Governance-Beratung anbietet. Wikimedia und ihre Schweizer Zweigstelle sind im Verwaltungsrat vertreten.

«Kiwix wurde also zu einem Vollzeitjob. Wir begannen, unsere eigene Finanzierung zu suchen und Entwickler einzustellen», sagt der Direktor. Derzeit hat der Verein weniger als fünf Vollzeitstellen, arbeitet aber mit 100 bis 200 freiwilligen Entwicklerinnen und Entwicklern in der ganzen Welt zusammen.

Von einer Million im Jahr 2017 liegt die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer heute bei rund sechs Millionen, die sich auf 200 Länder und Territorien verteilen – einschliesslich der Antarktis.

«Man muss aber bedenken, dass wir nur die Leute zählen, die wir kennen», sagt Coillet-Matillon. «Durch die Art unserer Tätigkeit nutzen uns viele offline und tauchen nie auf unseren Servern auf.» Innerhalb von fünf Jahren will Kiwix 100 Millionen Nutzerinnen und Nutzer erreichen.

Coillet-Matillon ist der Ansicht, dass es «ein nicht quantifizierbarer, aber nicht zu vernachlässigender Vorteil» ist, in der Schweiz ansässig zu sein. «Paradoxerweise ist unser Produkt nicht dazu bestimmt, in der Schweiz verwendet zu werden, aber sein Leben ist viel einfacher, weil es in der Schweiz hergestellt wird», betont er.

Der Direktor nennt die «Stabilität», das «Image von Qualität und Neutralität» sowie die Unterstützung der Behörden als günstige Standortfaktoren für seine Tätigkeit.

Nutzung von Kiwix in Ecuador
Ursprünglich zielte Kiwix vor allem darauf ab, den Zugang zu Bildung in den entlegensten Gebieten der Welt zu unterstützen. Hier in Ecuador. Kiwix

Von Bildungszugang zur Zensurumgehung

In normalen Zeiten wird Kiwix zu 80% von Entwicklungsländern aus genutzt. Die ursprüngliche Bestimmung der Plattform ist, den Zugang zu Bildung in den entlegensten Gebieten zu unterstützen, in denen es an Verbindungen ins Internet mangelt. Vier Milliarden Menschen auf der Welt haben nach Angaben der Organisation keinen Internetzugang.

Das Kiwix-Team weiss jedoch auch, dass sein Werkzeug auch dazu dient, staatliche Propaganda zu umgehen. Das prominenteste Beispiel ist Nordkorea, wo Dissidentenorganisationen Kiwix verwenden, um Inhalte auf USB-Sticks zu speichern, die dann als Lebensbeweise aus der Aussenwelt auf den Strassen Nordkoreas «verloren» gehen.

Kiwix wird auch in Ländern eingesetzt, die besser vernetzt sind, in denen der Zugang zum Internet jedoch eingeschränkt ist. In der Türkei hatte die Blockierung von Wikipedia zwischen 2017 und 2020 bereits zu einem Anstieg der Downloads geführt.

Vor dem Angriff auf die Ukraine wurde das Tool auch in Russland, im Iran und vor allem in China ein wenig genutzt. Im letzten Jahr war das Reich der Mitte mit fast 20% das Land mit den meisten Downloads.

In diesen Ländern stammen die Menschen, die Kiwix nutzen, eher aus der Mittelschicht, sagt Coillet-Matillon. «Sie kämpfen nicht unbedingt aktiv gegen die Zensur, sondern wollen einfach Zugang zu einem Qualitätsprodukt haben, das zu Hause nicht verfügbar ist.»

Auf eigene Faust militant

Dem Chef zufolge hat Kiwix jedoch noch nie eine Situation von vergleichbarem Ausmass wie in den letzten Wochen erlebt. Und das wirft Fragen auf. Die Rolle des Vereins besteht seiner Meinung nach nicht darin, sich frontal gegen Moskau zu stellen. «Unsere Aufgabe ist der freie Zugang zu Informationen. Wir sind auf eigene Faust militant.»

Sollte man die derzeitige Nutzung von Kiwix also unterstützen? «Wenn wir anfangen, uns als Anti-Zensur-Organisation zu bezeichnen, besteht ein politisches Risiko für die Stiftungen, die uns finanzieren», sagt Coillet-Matillon.

Das Team trifft also immer wieder Entscheide. Nachdem es zunächst erwogen hatte, eine Auswahl russischer Artikel über den Krieg in der Ukraine zum Herunterladen anzubieten, verzichtete es darauf, weil es der Meinung war, dass «diese Geste offen militant gewesen wäre».

Stattdessen stellte Kiwix Pakete mit medizinischer Dokumentation zusammen, ausdrücklich über Kriegsmedizin. Diese wurden im März auf der ukrainischen Website von Google beworben – eine Premiere für die Kiwix-Organisation, die nie Werbung macht.

Coillet-Matillon relativiert die Risiken, die Kiwix drohen. Aus technischer Sicht sei es zwar nicht völlig unmöglich für ein Land, das Programm am Funktionieren zu hindern, aber es wäre besonders kompliziert, meint er.

Die Server der Organisation sind über die ganze Welt verstreut – keiner befindet sich in Lausanne –, und es gibt etwa 20 Spiegelseiten von Kiwix in mehreren Ländern. Ausserdem wäre ein Angriff auf Kiwix sinnlos, da der Code frei ist und «es überall Kopien davon gibt».

Coillet-Matillon fügt hinzu, dass Sicherheitsmassnahmen zum Schutz vor Cyberangriffen für die Organisation, die keine persönlichen Daten sammelt, schon immer eine «Lebenseinstellung» gewesen seien.

«Die beste Verteidigung ist es, vorbereitet zu sein, und das sind wir», sagt er. Dennoch würde es ihn wundern, wenn Kiwix als Zielscheibe betrachtet würde. «Wir sind kein grosser Fisch», sagt er. «Wir haben eine Mission und setzen sie um, aber wir leiden nicht am Weltretter-Syndrom.»

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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