Ein Stärkungsmittel für die Hausarztmedizin
Die immer älter werdende Schweizer Bevölkerung soll Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung von hoher Qualität erhalten, bei der die Hausärzte ein wesentliche Rolle spielen. Dies sieht ein neuer Verfassungsartikel vor, über den das Volk am 18. Mai abstimmt.
Der neue Verfassungsartikel «Medizinische Grundversorgung» geht auf eine Initiative der Hausärzte zurück. Dank dieser Initiative haben der Bundesrat (Regierung) und das eidgenössische Parlament eine Reihe von Massnahmen erlassen, um die Hausarztmedizin als Grundlage der medizinischen Grundversorgung zu stärken.
Seit dem Jahr 2006 machten die Hausärzte Druck, um die Attraktivität ihres Berufs zu erhöhen. Sie wiesen darauf hin, dass wegen der fortschreitenden Alterungsprozesses der Gesellschaft und dem Anstieg von chronischen Krankheiten mehr Hausärzte nötig sein würden. Dabei ging die Zahl der Hausärzte mangels eines Generationenwechsels in jüngster Zeit de facto zurück.
Mittlerweile entscheiden sich nur noch 10 Prozent der Medizinstudenten für die Hausmedizin. Gemäss dem Berufsverband liegt dies unter anderem daran, dass die Gesundheitspolitik diesen Beruf benachteiligt, insbesondere durch die Tarifpolitik. So verdienen Hausärzte wesentlich weniger als spezialisierte Fachärzte.
Bundesbeschluss über die medizinische Grundversorgung (Direkter Gegenentwurf zur Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin») vom 19. September 2013
Art. 117a (neu) Medizinische Grundversorgung
1 Bund und Kantone sorgen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine ausreichende, allen zugängliche medizinische Grundversorgung von hoher Qualität. Sie anerkennen und fördern die Hausarztmedizin als einen wesentlichen Bestandteil dieser Grundversorgung.
2 Der Bund erlässt Vorschriften über:
a. die Aus- und Weiterbildung für Berufe der medizinischen Grundversorgung und über die Anforderungen zur Ausübung dieser Berufe;
b. die angemessene Abgeltung der Leistungen der Hausarztmedizin.
Hausärzte auf der Strasse
Um ihre Forderungen öffentlich zu machen, waren die Hausärzte auch auf die Strasse gegangen und hatten demonstriert – ein einmaliger Vorgang für die Schweiz. Da die Appelle nichts fruchteten, lancierten sie 2009 eine Volksinitiative mit dem Titel «Ja zur Hausarztmedizin».
Diese Volksinitiative beinhaltete unter anderem die Pflicht für den Bund und die Kantone, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine ausreichende, allen zugängliche, fachlich umfassende und qualitativ hochstehende medizinische Versorgung der Bevölkerung durch Fachärztinnen und Fachärzte der Hausarztmedizin zu sorgen.
Die Volksinitiative fand einen rekordverdächtigen Zuspruch. In weniger als einem halben Jahr wurden 200’000 Unterschriften gesammelt. Das ist das Doppelte der zum Zustandekommen einer eidgenössischen Volksinitiative benötigten Zahl an Unterschriften.
Regierung und Parlament anerkannten die Sorgen der Initianten, fanden es aber problematisch, eine Verfassungsbestimmung zu erlassen, die auf einen einzigen Arztberuf fokussiert. Aus diesem Grund wurde ein direkter Gegenvorschlag erarbeitet, der nun in Form eines Bundesbeschlusses dem Stimmvolk zur Abstimmung vorgelegt wurde. Fast alle Parteien konnten sich einigen.
Alle Berufsgruppen eingeschlossen
«Dieser neue Verfassungsartikel ist besser als der ursprüngliche Artikel der Initianten, weil eine generelle Stärkung der Grundversorgung vorgesehen ist. So können die Gesundheitsprobleme der Bevölkerung und der Zugang zu Behandlungen insgesamt verbessert werden. Die Bedeutung der Hausarztmedizin wird hervorgehoben, doch werden gleichzeitig alle Berufe der medizinischen Grundversorgung mitberücksichtigt. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz, in dem neben dem Hausarzt auch andere Berufsgruppen wie Krankenschwestern, Physiotherapeuten oder Ergotherapeuten Platz finden», lobt SP-Nationalrätin Marina Carobbio.
Carobbio ist selbst Familienärztin. Ihrer Meinung nach muss die Grundversorgung unbedingt auf der Zusammenarbeit und Komplementarität verschiedener Berufsgruppen fussen. «Um chronisch Kranke adäquat zu versorgen, braucht es eine globalen Ansatz», so die Tessiner Ärztin. Wenn der Verfassungsartikel zur medizinischen Grundversorgung angenommen werden sollte, sei diese Voraussetzung erfüllt: «Das wird einen Schub geben.»
Gemäss einer Statistik des Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) waren im Jahr 2012 in der Schweiz genau 31’858 Ärzte berufstätig, was im Vergleich zum Vorjahr einer Zunahme von 3,3% entsprach. Der Anstieg bei den Frauen war mit 5,8% höher als bei den Männern (1,8%).
Die Klassifizierung zeigt, dass 53,1% der Ärzte hauptberuflich im ambulanten Sektor arbeiteten, 42,5% im stationären Sektor, und lediglich 1,7% in anderen Bereichen.
Der Frauenanteil betrug 42,2% im stationären Sektor, 33,9% im ambulanten Sektor und 26,8% in den anderen Sektoren. In der Altersgruppe der 25-34-Jährigen war der Frauenanteil grösser als jener der Männer.
Das Gesamtbild widerspiegelt die Entwicklung der Frauenquote bei den Studierenden und in den Abschlüssen im Studium der Humanmedizin in den letzten Jahren. Der Frauenanteil in der Ärzteschaft wird in den nächsten Jahren weiter steigen, zumal viele männliche Ärzte pensioniert werden.
Das Durchschnittsalter der Ärzte in der Schweiz betrug 48,8 Jahre. Die Frauen weisen mit 45 Jahren ein deutlich tieferes Durchschnittsalter aus als die Männer mit 51 Jahren.
Die zusehende Feminisierung der Ärzteschaft verschärft das Problem des Generationenwechsels, denn viele Frauen wollen nur in Teilzeit tätig sein, um sich auch um ihre Kinder kümmern zu können.
Im Jahr 2012 verzeichneten Frauen ein durchschnittliches Arbeitspensum von 7,4 Halbtagen pro Woche, während die Männer auf 9,3 Halbtage pro Woche kamen. 88% der Allgemeinmediziner (Frauen und Männer) geben an, mehr als 55 Stunden pro Woche zu arbeiten.
Richtiges Ziel, falscher Weg
Kritischer sieht es SVP-Parlamentarier Guy Parmelin: «Der Gegenvorschlag ist im Vergleich zur Volksinitiative sicherlich das geringere Übel. Doch es gibt ein grosses Problem: Für eine Berufsgruppe wird in der Verfassung eine Art Lohngarantie gegeben. Das ist ein Novum. Und was bedeutet die Formulierung: «Der Bund erlässt Vorschriften über die angemessene Abgeltung der Leistungen der Hausarztmedizin?» Parmelin hat wie fast alle seiner SVP-Fraktionskollegen gegen den Verfassungsartikel gestimmt, der von allen anderen Parteien hingegen gut geheissen wurde.
«Wir sind einverstanden, dass die medizinische Grundversorgung für alle zugänglich sein soll, die Hausarztmedizin unterstützt wird und es eine ausgewogene regionale Verteilung an Ärzten gibt», fügt der SVP-Parlamentarier an. Doch dieser Verfassungsartikel sei der falsche Weg. Zumal er die Gefahr berge, dass Kompetenzen von den Kantonen an den Bund übertragen werden könnten.
«Die Kantone und Gemeinden sind in dieser Sache gefordert. Sie kennen die Situation aus der Nähe am besten», so Guy Parmelin. Diese Nähe sei effizient. Zentralisierung sei der falsche Weg. SP-Nationalrätin Marina Carobbio entgegnet, dass der Verfassungsartikel festhält, dass Bund und Kantone «im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten» aktiv werden.
Ein Bündel an Massnahmen
Über den Verfassungsartikel hinaus prüfen Bund, Kantone, Ärzteverbände und das Initiativkomitee weitere Massnahmen, um das Problem des Hausärztemangels kurz- und mittelfristig zu lösen. Es geht um einen so genannten «Masterplan Hausarztmedizin und medizinische Grundversorgung», der von Gesundheitsminister Alain Berset vorgeschlagen wurde.
Zurzeit wird an mehreren Reformprojekten gearbeitet, die sich mit der Ausbildung und Forschung im Bereich der Familienmedizin befassen. Dabei geht es auch um eine Revision des Bundesgesetzes über die universitären Medizinalberufe.
In Bezug auf die Abgeltungen strebt die Landesregierung an, die Tarife für die Laboruntersuchungen zu erhöhen, die in den Hausarztpraxen durchgeführt werden. Auf diese Weise könnten zusätzlich 35 Millionen Franken in die Kassen dieser Praxen fliessen.
Zugleich sollen die Tarife für die medizinischen Leistungen angehoben werden. Das sollte weitere 200 Millionen Franken in die Kassen der Hausärzte spülen. Dieses Geld soll auf der anderen Seite eingespart werden, indem Tarife für Techniker oder hochspezialisierte Fachärzte reduziert werden. Letztere haben, genauso wie die Spitäler, umgehend protestiert. Doch sie bekämpfen den neuen Verfassungsartikel nicht.
Vollständig zufrieden mit dem Lauf der Dinge, das heisst mit dem direkten Gegenvorschlag, sind dagegen die Promotoren der ursprünglichen Hausarztmedizin-Volksinitiative. Sie haben ihre Volksinitiative daher zurückgezogen.
Keine aktive Nein-Kampagne
«Alle Reformen lassen sich auch ohne Verfassungsartikel durchsetzen. Und den Kantonen steht die Möglichkeit offen, die Ansiedelung von Hausärzten in Gegenden zu fördern, in denen es heute zu wenige gibt», ist Guy Parmelin gleichwohl überzeugt.
Die SVP hat für die Volksabstimmung vom 18. Mai noch keine offizielle Parole gefasst. Doch es ist sehr wahrscheinlich, dass der Zentralvorstand am 4. April die Nein-Parole ausgibt, analog zum Entscheid der Fraktion.
Die Partei wird aber keine aktive Nein-Kampagne führen. Denn die politischen Schwerpunkte liegen momentan auf zwei weiteren Vorlagen für den 18. Mai: Der Beschaffung der Gripen-Kampflugzeuge und der Mindestlohninitiative.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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