«Eine Misstrauensmentalität gegenüber Fremden»
Der Schweizer Inlandgeheimdienst hat gegen das Datenschutz-Gesetz verstossen. Werner Carobbio, zentrale Figur in den Untersuchungen des "Fichenskandals" in den 1990er-Jahren, ermahnt die Behörden und fordert eine umfassende parlamentarische Debatte.
Der am Mittwoch von der Geschäftsprüfungs-Delegation des Schweizer Parlaments (GPDel) veröffentlichte Bericht war brisant.
Er zeigte, dass der Geheimdienst für über die Hälfte der in einer Datenbank registrierten 200’000 Personen Daten aller Art gesammelt hat, ohne sich Kontrollen unterziehen zu lassen und ohne Einhaltung der im seit 1994 gültigen Staatsschutz-Gesetz (ISIS) festgehaltenen Vorschriften.
Das heisst, die Datensammlung ist voll von irrelevanten, falschen oder unnötigen Informationen, welche die Arbeit behindern könnten oder sogar zu übertriebenen Aktionen führen oder im schlimmsten Fall die Sicherheit des Staats gefährden könnten, unterstrich die GPDel.
Die Schweiz hatte bereits in den frühen1990er-Jahren eine Fichen-Affäre, die nach den damaligen Untersuchungen der beiden Parlamentarischen Untersuchungskommissionen (PUK) zu Umstrukturierungen sowohl im Justiz-und Polizeidepartement (EJPD) wie auch im damaligen Militär-Departement (heute VBS) führte. Es wurden ein Kontroll-Organ und neue Gesetze eingeführt.
Zwar hat die Geschäftsprüfungs-Delegation nicht von einem «neuen Fichenskandal» gesprochen, doch diverse Schweizer Medien machten genau das. Erstaunt nahm die Bevölkerung von der Nachricht Kenntnis.
Auch Werner Carobbio, damals Vizepräsident der PUK, die das Militärdepartement untersuchte, zeigte sich gegenüber swissinfo.ch «relativ überrascht».
Trotz all den neuen Leitplanken, «eingesetzt zum Vermindern der Fichierung», habe man weitergemacht wie vor dem Bekanntwerden des Fichenskandals, der damals «einen Schock in der öffentlichen Meinung der Schweiz provoziert hatte».
Besorgniserregend und politisch schwerwiegend
Laut dem ehemaligen Tessiner Nationalrat ist die neuste Entwicklung «beunruhigend, weil sie zeigt, dass die Schweizer Nachrichtendienste nichts gelernt haben, keine Schlüsse aus dem Skandal gezogen haben. Das ist schwerwiegend, weil es auch bedeutet, dass die politischen Behörden praktisch nichts unternommen haben, um die Aktivitäten dieser Dienste zu kontrollieren».
«Die gesetzlichen Vorlagen sind eindeutig. Die politischen Behörden haben den Auftrag, diese durchzusetzen», unterstreicht der Sozialdemokrat, der nicht mehr im Eidgenössischen Parlament sitzt, sich politisch aber weiterhin auf kantonaler Ebene betätigt und die nationale Politik immer noch aufmerksam verfolgt.
«Die Hauptverantwortlichen sind die Behörden, die betroffenen Departemente und deren damalige Bundesräte», die im Moment der Fichierung im Amt gewesen seien, so Carobbio.
«Vertrauensselige Delegation»
Der Tessiner geht aber auch mit der Geschäftsprüfungs-Delegation ins Gericht: Schliesslich habe sie die Aufsicht über diese Tätigkeiten und müsse daher eine gewisse Verantwortung übernehmen.
Nach seiner Ansicht hat es sich die GPDel zu leicht gemacht, «sie war zu vertrauensselig» gegenüber den Geheimdiensten.
Sie sei sich zu wenig bewusst gewesen, dass dies «eine Arbeit ist, die mit höchster Aufmerksamkeit, Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit gemacht werden muss».
In diesem Zusammenhang erinnert sich der ehemalige Nationalrat an seine Erfahrungen in der PUK, die in ihren ersten Jahren die Überwachung und Kontrolle der Arbeit der Geheimdienste eingeführt hatte. Kontrollen, die die GPDel seither regelmässig durchführt.
In jener Zeit «gab es von Seiten der Dienststellen, Behörden und betroffenen Abteilungen wirklich ein Anliegen, die Delegation mit Informationen zu versorgen. Wir wurden eingeladen, sie zu überprüfen», erinnert sich Werner Carobbio. «Ich habe den Eindruck, im Lauf der Zeit ist dieses Anliegen verblasst und hat einer regelrechten Verdächtigungs-Manie Platz gemacht.»
Jagd auf Ausländer
Die neuste «absurde» Fichierung sei in der Tat das Resultat einer «Haltung des Misstrauens gegenüber Ausländern, gegenüber jenen, die sich entgegen dem Schweizer Klischee verhalten», kommentiert Carobbio.
Eine Mentalität, die bereits vor zwei Jahrzehnten festgestellt worden sei, sich aber laut dem ex-Nationalrat verstärkt hat. Bereits 1989 hätten die Fichen mehr Ausländer als Schweizer betroffen. «Es handelte sich aber eher um Ausländer, die in linksgerichteten Bewegungen aktiv waren.»
Carobbio fragt, «in welchem Ausmass die Mentalität, Ausländer zu kontrollieren, quasi zu einer Art Handbuch wurde» im Justiz-und Polizeidepartement. Dieses befand sich, wie der Bericht zeigt, zur Zeit der meisten Fichierungen unter der Leitung von Ex-Bundesrat Christoph Blocher.
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«Debatte nötig»
Carobbio hofft, dass der Bericht, «obgleich verspätet, eine Chance ist für eine echte politische Debatte darüber, was erneut geschehen ist, und warum». Der Sozialdemokrat will nicht ausschliessen, dass eventuell » eine PUK nötig sein wird, um herauszufinden, ob noch mehr gemacht wurde, als lediglich Personen zu fichieren».
Die Landesregierung allerdings scheint nicht in Eile: Die Sprecherin von Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf erklärte am Donnerstag gegenüber der Nachrichtenagentur SDA, der Bundesrat werde den Bericht der GPDel zuerst analysieren. Bis Ende Oktober werde er, wie verlangt, darauf antworten. Ins Parlament kommen wird er damit wohl nicht vor der Wintersession.
Von Daeniken gibt Amt ab
Der Fokus in der Staatsschutz-Affäre richtete sich am Freitag auf den früheren Geheimdienstchef Urs von Daeniken. Die Geschäftsprüfungs-Kommission (GPK) des Nationalrats kritisierte, dass von Daeniken heute für die Reorganisation der Bundesanwaltschaft zuständig ist.
Sie habe «mit Befremden» davon Kenntnis genommen, dass das EJPD von Daeniken mit der Projektleitung betraut habe, schrieb die GPK in einer Mitteilung vom Freitag. Sie habe «wenig Vertrauen» in ihn, hiess es. Die GPK forderte das EJPD auf, den Entscheid zu überprüfen.
Am Freitagabend reagierte das EJPD. Von Daeniken gebe bei der Bundesanwaltschaft die Funktion des Projektleiters ab, teilte es per Communiqué mit. Der 58-Jährige werde im Sinn einer Übergangsregelung durch den Stellvertreter des Bundesanwalts ersetzt.
Von Daeniken habe sich nach einem Gespräch mit Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf von sich aus zu diesem Schritt entschieden, präzisierte EJPD-Sprecher Guido Balmer auf Anfrage der SDA.
Das EJPD teile die Vorbehalte der GPK gegen von Daeniken zwar nicht, schreibt das Departement weiter. Es sei aber bereit, zusammen mit der GPK für das Projekt bei der Bundesanwaltschaft eine Lösung zu finden, die das Vertrauen der GPK geniesse. Das Schreiben der GPK und deren Fragen werde das EJPD umfassend und fristgemäss bis zum 15. August 2010 beantworten.
Im Rahmen seiner Anstellung im EJPD habe von Daeniken seit dem 1. Januar 2009 keine Aufgaben mehr im Zusammenhang mit sensiblen Daten oder Informationssystemen, hält das EJP fest. Vielmehr erfülle er in einzelnen Projekten organisatorische, administrative und unterstützende Aufgaben.
«Keine Probleme»
Seit Ende April 2010 habe von Daeniken den Bundesanwalt bei der Umsetzung des Projektes «BA 2011» unterstützt. Die Verantwortung für das Projekt liege in den Händen des Bundesanwalts. Von Daeniken habe ihm als Leiter der Projektorganisation gedient, die aus Mitarbeitenden der BA und des EJPD bestehe.
Bei den Arbeiten, die von Daeniken im Rahmen seiner Anstellung im Generalsekretariat EJPD seit 2009 erledigte, «gab und gibt es keine Probleme», schreibt das EJPD. «Urs von Daeniken führt seine Aufgaben auftragsgemäss aus.»
Er habe im EJPD eine bis Ende 2011 befristete Stelle innerhalb des Generalsekretariats inne. Dort wird von Daeniken laut Balmer bis zum Ablauf dieser Frist nun andere Aufgaben übernehmen.
Sonia Fenazzi, swissinfo.ch
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
Zur Untersuchung des Falls von Bundesrätin Elisabeth Kopp beschloss das Parlament am 31. Januar 1989, eine Parlamentarische Untersuchungs-Kommission (PUK) unter dem Vorsitz des damaligen Nationalrats und heutigen Bundesrats Moritz Leuenberger einzusetzen.
Der Auftrag umfasste auch eine detaillierte Untersuchung der von der Bundesanwaltschaft betriebenen Datensammlungs-Aktivitäten mittels sogenannter Fichen (Registerkarten).
In den späten 1980er-Jahren war nach und nach ans Licht gekommen, dass Bundesbehörden und kantonale Polizeibehörden rund 900’000 Fichen angelegt hatten. Es sollen mehr als 700’000 Personen und Organisationen betroffen gewesen sein, mehr als 10% der damaligen Bevölkerung.
Bespitzelt wurden vor allem linksstehende Politiker und Mitglieder von Gewerkschaften.
Offizielles Ziel der Fichierung war, das Land vor aus dem Ausland gesteuerten subversiven Aktivitäten zur Destabilisierung des Systems und nachfolgender Errichtung einer totalitären (kommunistischen) Diktatur zu schützen.
Der Skandal erstreckte sich auch auf den militärischen Nachrichtendienst: Im Februar 1990 wurde die Existenz von zwei illegalen geheimen Organisationen bekannt, der P26 und der P27.
Die Aufdeckung des Fichenskandals erschütterte das Vertrauen vieler Bürger in den Staat: Zahlreiche Bürger reichten Gesuche ein, um die Herausgabe der persönlichen Fichen zu erreichen. Sie erhielten schliesslich Kopien ihrer Fichen, auf denen die Namen von Drittpersonen abgedeckt wurden, um die Identität der Informanten geheim zu halten.
Am 14. Oktober 1991 wurde die Initiative «Schluss mit dem Schnüffelstaat» lanciert. Bei der Abstimmung am 7. Juni 1998 war die Empörung der Bevölkerung offenbar erschöpft: Die Initiative wurde mit 75,1% Nein bachab geschickt.
Viele Akten der Bundespolizei wurden 1994 in die elektronische Datenbank ISIS überführt.
Am 30. Juni 2010 legte die Geschäftsprüfungs-Delegation (GPDel) einen Bericht vor, der enthüllt, dass die Geheimdienste nach wie ohne Berücksichtigung der rechtlichen Bestimmungen Informationen jeglicher Art sammeln.
Die Datenbank enthält eine Fülle von falschen oder irrelevanten Informationen.
Die GPDel hat zur Bewältigung dieses Missstandes 17 Empfehlungen an das Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) abgegeben, das neu für den Informationsbeschaffung des Landes zuständig sein wird.
Der Bundesrat wird ferner aufgefordert, bis Ende Oktober Stellung dazu zu nehmen.
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