«Eine Teilung Syriens ist nicht auszuschliessen»
Obwohl es keine Zeichen einer Kapitulation gibt, sind hinter den Kulissen Vorbereitungen für die Zeit nach Assad im Gang. Das syrische Regime sei im Herzen seines Sicherheitsapparats getroffen, aber das letzte Wort noch nicht gesprochen, sagt ein Experte.
Präsident Bachar el-Assad könnte sich in die alevitischen Berge zurückziehen, sagt Mohammed-Reza Djalili.
Der emeritierte Professor am «Institut des hautes études et du développement» befürchtet, dass Syrien in einen dauerhaften Bürgerkrieg versinken könnte.
Im Gespräch mit swissinfo.ch erklärt er die komplexen Zusammenhänge des Aufstands in Syrien und was für die einzelnen Regionen und die internationale Gemeinschaft auf dem Spiel steht.
swissinfo.ch: Nach dem Anschlag vor einer Woche, bei dem in Damaskus drei hohe Träger des Regimes getötet wurden und der Ausweitung der Kämpfe in die beiden grössten Städte des Landes scheinen die Tage von Bachar el-Assad gezählt zu sein?
Mohammed-Reza Djalili: Das Attentat im Herzen des Sicherheitsapparats hat ganz sicher eine symbolische Wirkung, aber es hat das Regime nicht ausgeschaltet. Bachar el-Assad hat die Mittel, um an der Macht zu bleiben, weil er noch über wichtige Trümpfe verfügt. Die Aleviten, die Christen und ein Teil des sunnitischen Bürgertums, die immerhin 35 Prozent der Bevölkerung ausmachen, unterstützen immer noch das Regime.
Obwohl sich ein Teil des Militärs von ihm abgewendet hat, bleiben die Armee und der repressive Apparat Assads sehr mächtig. Ihre Verbundenheit mit der Macht ist intakt geblieben. Vor dem Zusammenbruch anderer arabischer Regime hatte sich jeweils eine Zersetzung zwischen der Armee und dem Machtzentrum abgezeichnet. In Syrien ist dies noch nicht der Fall. Aber das kann sich auch sehr schnell ändern.
Die Drohung des Regimes, im Fall einer Intervention aus dem Ausland seine chemischen Waffen einzusetzen, bedeutet nicht unbedingt, dass es alles auf eine Karte setzt. Es ist lediglich Teil der psychologischen Kriegsführung, die sich die beiden Lager liefern.
swissinfo.ch: Besteht die Gefahr, dass sich der syrische Konflikt auf die Nachbarländer ausweitet?
M-R.D.: Die Gefahr ist reell, vor allem was den Libanon betrifft, wohin bereits Zehntausende Syrer geflüchtet sind. Die beiden Länder sind eng miteinander verbunden. Die syrische Krise erfasst unweigerlich auch den Libanon. Es ist zu hoffen, dass sie den innerlibanesischen Konflikt nicht wieder aufleben lässt.
Aber auch andere Nachbarländer sind betroffen: Jordanien, wo sich Flüchtlinge abgesetzt haben, und auch die Türkei mit ihrem ungelösten Konflikt mit den Kurden, die beidseits der Grenze leben.
swissinfo.ch: Steht Syrien, wie damals dem Libanon, ein dauerhafter Bürgerkrieg bevor?
M-R.D.: Diese Hypothese lässt sich leider nicht ausschliessen. Es gibt zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen den beiden Ländern, vor allem was die ethnische und religiöse Verkettung betrifft. Die Lage ist sehr komplex und hängt stark von der Entwicklung vor Ort ab. Damit Syrien nicht das gleiche Schicksal ereilt wie im Libanon, bräuchte es tiefgreifende Änderung an der Spitze der Regierung.
Es zeichnet sich aber auch ein anderes Szenario ab: Bachar el-Assad und seine Entourage könnten sich in die Bergregion der Aleviten zurückziehen. Sie könnten diese Region als Ausgangsbasis für die Rückeroberung der Macht benützen. In diesem Szenario könnte das Regime auf eine Zersplitterung und Aufteilung Syriens hinwirken.
swissinfo.ch: Wollen Sie damit sagen, dass es schwierig sein wird, nach einem Zusammenbruch des Regimes politische Abrechnungen unter den verschiedenen Parteien zu vermeiden?
M-R.D.: Diese Aufgabe scheint fast unlösbar zu sein. Während den ersten 10 Monaten der Proteste war ein Ausgang ohne grössere Zusammenstösse und Gewalt noch denkbar. Gegenwärtig scheint mir dies aber leider sehr unwahrscheinlich zu sein.
swissinfo.ch: Ist der Syrien-Konflikt, längerfristig betrachtet, die Ankündigung eines neuen Kräfteverhältnisses zwischen aufstrebenden (China und Russland) und westlichen Ländern?
M-R.D.: Allerdings. Der syrische Konflikt hat eine globale Dimension. Auf der einen Seite versuchen die Russen und Chinesen ihren Einfluss in der Region geltend zu machen, auf der andern Seite die westlichen Mächte.
Das zeigt sich in den andauernden Blockaden im UNO-Sicherheitsrat. Dazu kommt eine regionale Dimension, welche die Nachbarländer Syriens betrifft, nämlich Libanon, Türkei, Israel und Irak.
swissinfo.ch: Hat sich Teheran aktiv am Konflikt an der Seite Assads beteiligt?
M-R.D.: Seine politische Unterstützung ist eindeutig. Der Iran benützt die genau gleiche Rhetorik wie Russland und behauptet, dass die Proteste der Bevölkerung eine reine Erfindung und Manipulation des Westens und Israels seien.
Die Iraner liefern dem Regime sehr wahrscheinlich nicht nur Waffen, sondern auch Informationen und Expertisen zum Cyber-Krieg. In diesem Bereich sind sie Experten geworden. Ausserdem haben die Iraner sehr enge Beziehungen mit Irak, welches das Assad-Regime ebenfalls unterstützt.
swissinfo.ch: Umgekehrt hat der Westen ein echtes Interesse, Syrien als wichtigsten Verbündeten des Irans in der Region zu schwächen?
M-R.D.: Der Iran ist tatsächlich der wichtigste Akteur der schiitischen Achse, die den Irak, Syrien, den libanesischen Hisbollah und Palästina einbezieht. Wenn das Assad-Regime zusammenbricht, stürzt auch ein wichtiger Teil der Regionalpolitik Irans ein.
Zahlreiche Länder wären froh, wenn die Macht in die Hände der sunnitischen Mehrheit überginge, weil es den iranischen Expansionsdrang stoppen würde. Für die Türkei, die sich auf die Seite der sunnitischen Monarchen im Persischen Golf geschlagen hat, zeichnet sich eine neue Option ab. Seit den arabischen Revolten wird die Türkei als ökonomischer und politischer Modell-Staat im sogenannten «Neuen Nahen Osten» betrachtet, wo sie eine wichtige Rolle spielen möchte. Und dahin führt natürlich der Weg über ein neues Regime in Damaskus.
Gemäss syrischen Menschenrechts-Beobachtern sind seit dem Beginn des Aufstandes gegen das Regime von Bachar el-Assad vor 16 Monaten 19’000 Personen, darunter zahlreiche Zivilisten, umgekommen.
Am 18. Juni ist ein Selbstmord-Attentat gegen den Führungsstab des syrischen Geheimdienstes verübt worden. Drei Personen sind dabei getötet worden, wie der Verteidigungsminister und der Schwager des Präsidenten. Auch der Premierminister wurde verletzt.
Nach dem Attentat konnten die Rebellen einige Quartiere in Damaskus und Aleppo halten, bevor die Panzer und Helikopter der regulären Armee wieder die Herrschaft übernahmen.
China und Russland haben mit ihrem Veto drei Mal eine Resolution verhindert, welche die Repression der Anti-Assad-Demonstrationen durch das syrische Regime verurteilt.
Diese hatten Mitte März 2011 begonnen.
Die internationale UNO-Überwachungskommission hätte vergangene Woche zu Ende gehen sollen. Ihre Mission ist jedoch um einen Monat verlängert worden.
Der UNO-Sondergesandte Kofi Annan vermochte bisher keinen Waffenstillstand auszuhandeln.
Mehr und mehr Syrer flüchten vor der Unsicherheit in ihrem Land. Bisher haben sich rund 150’000 Personen in den Nachbarländern in Sicherheit gebracht, gemäss dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) in Genf.
In einer Woche registrierte das UNHCR gegen 30’000 zusätzliche Flüchtlinge. Am Montag erreichten rund 6000 Syrer den Libanon. Damit hat das kleine Land bisher mindestens 30’000 Syrer aufgenommen.
Rund 36’000 Syrer haben gemäss UNHCR in Jordanien Unterschlupf gefunden. Doch befinden sich laut den Behörden weitere Zehntausende im Land, die nicht registriert worden seien.
Das UNHCR baut nun in Jordanien ein Camp für rund 120’000 Flüchtlinge.
Weitere 44’000 Syrer sind in die Türkei geflohen, andere in den Irak.
Auch in der Schweiz hat die Zahl von Asylgesuchen syrischer Staatsbürger etwas zugenommen. Das Bundesamt für Migration (BFM) rechnet aber insgesamt nicht mit einem starken Anstieg.
Oberfläche: 185’180 km2 (Schweiz: 41 290 km2 ),
Bewohner 21 Millionen, die Hälfte davon Städter und 52% jünger als 25 Jahre. Alphabetisierungsgrad: 75%.
Die Bevölkerung setzt sich zusammen aus 89% Arabern, 6% Kurden, 2% Armeniern, 3% Tscherkessen und Assyrer.
Grosse religiöse Diversität: 72% der Syrer sind Sunniten, 12% Alewiten und 3% Drusen (islamische Sekten, die von Sunniten und Schiiten als Häretiker eingestuft werden), 6% Katholiken und Protestanten, 4% Orthodoxe, 3% Schiiten.
Quelle: Courrier International und Le Temps.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler und Alexander P. Künzle)
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