«Die Art und Weise der Bundesratswahl sollte überdacht werden»
Die Nichtwahl der Grünen Kandidatin für den Bundesrat könnte als Missachtung des Wählerwillens verstanden werden. Doch laut dem Politikwissenschaftler Nenad Stojanović steht die heutige Bundesratswahl im Einklang mit der Geschichte der Schweizer Regierung. Seiner Meinung nach braucht es einen Systemwechsel.
Keine Überraschung im Bundeshaus: Die sieben Mitglieder der Schweizer Regierung sind am Mittwoch von der Bundesversammlung bestätigt worden.
Trotz der Resultate der Nationalen Wahlen im Oktober, bei denen die ökologischen Parteien auf Kosten der traditionellen Parteien deutlich dazugewonnen haben, setzt die Schweizer Exekutive den Weg der Kontinuität fort, kommentiert Nenad Stojanović, Professor am Institut für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen der Universität Genf.
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swissinfo.ch: Die Schweizer Regierung wurde, wie vorhergesagt, in ihrer Gesamtheit bestätigt. Hat die Wahl dennoch für Überraschungen gesorgt?
Nenad StojanovićExterner Link: Alles geschah so, wie im Voraus prognostiziert. Betrachtet man die Geschehnisse der letzten Jahrzehnte, so überraschen vielleicht die guten Resultate der bisherigen Bundesräte. Es wurde weniger Unterstützung erwartet.
swissinfo.ch: Die Grünen sind die grossen Gewinner der nationalen Wahlen vom Oktober. Deren Bundesratskandidatin, Regula Rytz, hat jedoch im Parlament nicht die erforderliche Mehrheit erhalten. Die Umweltparteien sind somit nicht in der Regierung vertreten. Ein Widerspruch?
N.S.: Sicherlich kann das Resultat als Missachtung des Volkswillens interpretiert werden. Es steht jedoch nicht unbedingt im Widerspruch zur Geschichte der Konkordanz und der Wahl der Regierung in der Schweiz.
Die Geschichte lehrt uns: Was bei den Urnen herauskommt, wirkt sich nicht automatisch und unmittelbar auf die Zusammensetzung des Bundesrates aus. Erinnern wir uns an die Schweizerische Volkspartei (SVP): Es dauerte mehrere Jahre, bis die Bundesversammlung mit Christoph Blocher einen zweiten SVP-Vertreter in die Regierung wählte, übrigens sehr knapp.
Die am wenigsten repräsentative Regierung
Das Parlament hat am Mittwoch eine Regierung wiedergewählt, die seit der 1959 ins Leben gerufenen Zauberformel am wenigsten die Wahlstärke der Parteien repräsentiert.
Rund ein Drittel der an den letzten Wahlen beteiligten Wählenden sind im Bundesrat (Landesregierung) nicht durch einen Minister oder eine Ministerin vertreten.
Die 13,2% der Wahlberechtigten, welche die Grüne Partei gewählt haben, müssen noch warten, bis sie einen ersten grünen Bundesrat erhalten. Es ist das erste Mal seit 1959, dass eine Partei mit einem Wähleranteil über 10% nicht im Bundesrat vertreten ist.
(Quelle: Keystone-SDA)
swissinfo.ch: Die Schweizer Regierung behält eine rechte Mehrheit, während das Parlament nach links gerutscht ist. Kann das eine Bremse für das Funktionieren der Bundespolitik sein?
N.S.: Ich glaube nicht. Wir haben in der Schweiz eine Regierung, die gleichgeblieben ist, und ein Parlament, das etwas linksgerichteter geworden ist, in dem die Linken aber keine Mehrheit haben. Im Gegenteil: Wenn ich das Stimmverhalten der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) berücksichtige, würde ich sagen, dass es sich um ein Mitte-Rechts-Parlament handelt. Je nach Thema gibt es unterschiedliche Allianzen im Parlament. So hatten wir beispielsweise eine Mitte-Rechts-Koalition für Kampfflugzeuge und ein ungewöhnliches Bündnis zwischen der SVP und der SP beim Armeebudget.
In der Schweiz zählen auch Personen, nicht nur Parteien. Als Didier Burkhalter Bundesrat war, der etwas linker politisierte als sein Nachfolger Cassis, hiess es, bei gewissen Fragen gebe es in der Regierung eine Mehrheit der Mitte und der Linken, während der Nationalrat (Grosse Parlamentskammer) überwiegend bürgerlich war.
«In der Schweiz zählen auch Personen, nicht nur Parteien.»
swissinfo.ch: Hat die Zauberformel, wonach die drei grössten Parteien jeweils zwei Regierungsmitglieder und die viertgrösste ein Mitglied stellt, angesichts der Wahlresultate im Parlament und im Bundesrat noch eine Existenzberechtigung?
N.S.: Die Zauberformel, wie wir sie seit 1959 kennen, existiert schon seit 2003 nicht mehr, als die CVP ihren zweiten Sitz verlor. Mit der Wahl von Guy Parmelin im Jahr 2015, die den zweiten Sitz der SVP verfestigte, haben wir eine neue Zauberformel. Diese hat heute dem Angriff der Grünen standgehalten, aber es ist noch zu früh, um zu sagen, ob sie auch in Zukunft Bestand haben wird.
Der wichtigste Aspekt dieser Wahl ist allerdings ein anderer: Wir haben bestätigt bekommen, dass wir die Struktur der Regierung und die Art und Weise, wie sie gewählt wird, überdenken müssen. Es gibt den Vorschlag, die Amtszeit auf zwei Legislaturen zu beschränken, um mehr Dynamik zu ermöglichen. Andere schlagen vor, die Zahl der Bundesräte auf neun zu erhöhen. Mit nur sieben Regierungsmitgliedern ist es unmöglich, sowohl den Resultaten der nationalen Wahlen Rechnung zu tragen, als auch die Vertretung von sprachlichen und geographischen Minderheiten sowie der Frauen sicherzustellen.
Kommentare aus der Presse
«Kein Ritzen an der Zauberformel» titelt die Neue Zürcher ZeitungExterner Link, die dem gescheiterten Angriff der Grünen auf die FDP einen ausführlichen Kommentar widmet. Regula Rytz (Grüne Partei) ist es nicht gelungen, der FDP einen Bundesratssitz abzujagen. «Ihre Strategie war von Beginn an wenig durchdacht», urteilt die NZZ. Zu rechnen sei nun mit zunehmenden Kämpfen und Profilierungsversuchen von amtierenden Bundesratsmitgliedern.
Das Onlineportal watson.chExterner Link schreibt, mit ihrem wenig überzeugenden Vorgehen hätten sich die Grünen selbst geschadet. Mit etwas mehr strategischem Geschick hätten sie es vielleicht geschafft. Etwa indem sie frühzeitig auf die CVP und die Grünliberalen zugegangen wären und eine mehrheitsfähigere Persönlichkeit nominiert hätten als die stramm linke Regula Rytz.
«Ein Sieg der Trägheit», titelt der Tages-AnzeigerExterner Link. Mit mehr Entschlossenheit, smarterem Lobbying und vielleicht auch einer weniger polarisierenden Kandidatin hätten die Grünen besser abschneiden können, kommentiert der Tages-Anzeiger. Dass den Grünen ein Bundesratssitz vorerst verwehrt bleibe, sei kein Skandal. «Beelendend sind aber die Argumente, mit denen man ihren Anspruch abschmetterte.» Das meistgenannte Argument, alle amtierenden Bundesrätinnen und Bundesräte wiederzuwählen, sie «Stabilität» gewesen. «Als ob Stabilität einen Wert um ihrer selbst willen darstellte.» Das faktische Abwahlverbot gehöre überdacht. Auf die Stimmung im Volk, die seit einigen Jahren volatiler werde, müsse das Parlament als Wahlbehörde des Bundesrats flexibler reagieren können.
Der Corriere del TicinoExterner Link findet, das Resultat sei für Cassis schmeichelhaft, der mit einem Handicap gestartet sei. Die Wiederwahl von Ignazio Cassis sei schlussendlich «komfortabel» gewesen, schreibt auch La LibertéExterner Link.
(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)
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