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«Ohne Kompromisse keine Integration»

Genf, 1962: Ankunft spanischer Saisonarbeiter am Hauptbahnhof. RDB

Das Thema Einwanderung ist in den letzten Jahren immer mehr ins Zentrum der politischen Debatte gerückt. Der Migrationsexperte Omar Benhamida spricht im Interview von einer weit verbreiteten negativen Medienberichterstattung über Migranten, die weder auf die tieferen Hintergründe noch auf den historischen Kontext für die heute herrschenden Verhältnisse eingeht.

swissinfo.ch: Wie schätzen Sie den Umgang der zuständigen Behörden in der Schweiz und den europäischen Ländern mit Einwanderern und Asylbewerbern in den letzten Jahren ein?

Omar Benhamida: Die Schweiz und die europäischen Länder sind mit den Migranten gut umgegangen, besonders mit denjenigen aus der arabischen und islamischen Welt. Sie haben ihnen all das gegeben, was ihnen reiche Länder aus der islamischen Welt vorenthalten haben. Soviel ich weiss, hat zum Beispiel Saudi-Arabien keine Flüchtlinge aus Jemen, Syrien oder dem Irak aufgenommen.

Angesichts der Lage, Fläche und Einwohner der Schweiz zeigt sich, dass die Schweiz ihre humanitäre Aufgabe und noch viel mehr erfüllt hat. Man darf nicht vergessen, dass mehr als 20% der Einwohner Ausländer sind. Die Schweizer haben seit 2011, dem Beginn der Unruhen in der arabischen Welt, grossartige Leistungen sowohl auf politischer als auch menschlicher Ebene erbracht.

swissinfo.ch: Ein Teil der Schweizer Politiker beantragte vor einigen Monaten, keine Asylbewerber mehr aufzunehmen. Wie ist ein solcher Antrag im Rahmen des Umgangs der Schweiz mit der Migration in den letzten Jahrzehnten zu verstehen?

O.B.: Im Verlauf dieser Jahrzehnte hat sich Vieles verändert: Zunächst waren alle Ausländer, die in den 1950er- und 60er-Jahren in die Schweiz kamen, Europäer. Alle haben einen gemeinsamen Nenner, der darin besteht, dass sie Christen sind. Sogar in jenem Zeitraum fühlten sich die Schweizer nicht wohl, als sich die Anzahl Deutscher, Italiener und Portugiesen erhöhte. Die Schweizer hatten dabei das Gefühl, es werde Druck auf ihre Lebensweise ausgeübt.

Danach, mit der Ankunft der arabischen, türkischen und albanischen Zuwanderer seit Beginn der 1980er- und 90er-Jahre, mit denen eine neue Religion – der Islam – in die Schweiz gebracht wurde, fingen die Schweizer an, neue Sitten und Kulturfacetten zu erleben. Das führte letztendlich zu einer veränderten Haltung gegenüber Ausländern.

Natürlich haben die internationale Lage, die Zunahme bewaffneter Konflikte, die Gewalttaten und der Terrorismus diese negative Haltung vertieft. Für die Schweizer gibt es einen grossen Unterschied zwischen den «deutschen oder italienischen Arbeitskräften» und den «irakischen oder tunesischen Asylbewerbern».

swissinfo.ch: «Schmarotzen» denn alle Ausländer von der schweizerischen Gesellschaft und nehmen den Schweizern Beruf und Platz weg?

Der Immigrationsexperte Omar Benhamida ist im Schweizer Kinderdorf Pestalozzi aufgewachsen und arbeitet heute in Zürich. zvg

O.B.: Das stimmt überhaupt nicht! Dieses negative Bild begannen die Medien besonders nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zu verbreiten. So eine Haltung ist surreal, denn viele Tätigkeiten in verschiedenen Bereichen könnten nicht mehr betrieben werden, wenn diese Ausländer die Schweiz verlassen müssten: Wer hat denn die Städte gebaut und reinigt sie nun? Wer hat die Strassen gebaut, Tunnel gegraben und Brücken errichtet? Natürlich Ausländer!

Dieses Land kann weder in der Gegenwart noch in Zukunft seinen Wohlfahrtsstaat aufrechterhalten ohne die Hilfe der Informatiker aus Indien und den Bankangestellten aus Deutschland, Amerika usw. Ebenso wäre das Gesundheitswesen nicht mehr funktionsfähig, wenn die Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger aus dem Nahen Osten nicht mehr da wären.

Die schweizerische Gesellschaft vergisst das manchmal. Gleichzeitig betonen die Medien nur die Probleme und die negativen Seiten in Bezug auf die Ausländer, anstatt auch diese Tatsachen zu nennen.

swissinfo.ch: Viele behaupten, die Ausländer würden sich nicht genug Mühe geben, um sich in das neue Umfeld zu integrieren. Wurde das Thema Integration schon mit den italienischen Immigranten diskutiert, wie es nun der Fall mit den arabischen, albanischen und türkischen Asylbewerbern ist?

O.B.: Tatsächlich gab es keine grossen Unterschiede. Ich erinnere mich daran, wie die Italiener in den 1960er- und 70er-Jahren in Ghettos lebten, wobei sie von morgens bis abends arbeiteten. Danach gingen sie zu ihren Familien zurück oder trafen sich mit anderen Italienern. Ich habe italienische Freunde, die seit mehr als 50 Jahren in Zürich leben und trotzdem kein Deutsch sprechen.

Für mich beginnt die Integration mit der Sprache, da es als erstes gilt, die Bedingungen in der neuen Umgebung zu verstehen. Die Integration an sich ist kompliziert: Zuerst förderte die Schweiz die Integration nicht, aber nun ist es anders geworden. Heute ist in jedem Kanton und in jeder Stadt ein Amt zu finden, das für Ausländer die nötige Hilfe leistet, damit diese sich in die Gesellschaft integrieren können.

Ausserdem stellen diese Ämter diverse Angebote zur Verfügung, damit die Ausländer die nationalen Sprachen erlernen. Hier ist darauf hinzuweisen, dass für die italienischen, französischen oder portugiesischen Einwanderer ein besonderes Prinzip gilt: «Ich fahre in die Schweiz, arbeite für fünf Jahre und baue ein Haus in meinem Heimatland. Dann verlasse ich das Land und ziehe in meine Heimat zurück.»

Genau das war der Fall mit den maghrebinischen Einwanderern in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Ausländer wollten die Sprachen der Aufenthaltsländer nicht lernen und das Funktionieren der schweizerischen Gesellschaft nicht verstehen.

Die Hoffnung, dass die Immigranten wieder ins Heimatland zurückkehren, wurde im Laufe der Jahrzehnte vererbt. Nach den ersten Jahren – unterdessen haben die Einwanderer bereits Kinder, die zur Schule gehen – wird diese Hoffnung zur Illusion. Die italienischen Immigranten bleiben in der Schweiz bis zur Rente.

Sogar nach der Pensionierung haben sie die Schweiz nicht verlassen, da sich das Bild ihrer Dörfer in Italien stark verändert hat. Einerseits waren sie nicht in der Lage, sich in die schweizerische Gesellschaft zu integrieren, und gleichzeitig hatten sie keine guten Beziehungen mehr mit ihrem Heimatland.

swissinfo.ch: Warum steht das Thema Integration immer wieder zur Diskussion? Wo liegt das Problem: Bei den neuen Zuwanderern oder beim heutigen Verständnis der Integration?

O.B.: Meines Erachtens stimmt beides. Als die Asylbewerber aus Albanien und Bosnien Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre in die Schweiz kamen, hatten die meisten Schweizer keine Ahnung, dass diese Menschen aus vorwiegend muslimischen Ländern kamen.

Die Schweizer nahmen sie auf, weil sie erstens Europäer und zweitens Kriegsopfer waren. In den ersten Jahren nach der Ankunft dieser Flüchtlinge gab es keine Probleme, aber mit ihrer Zunahme und wegen der schwerwiegenden Erlebnisse in ihren Heimatländern waren unter ihnen auch Personen, die Verbrechen begehen. Somit wurde «albanisch» zu einem Synonym für «negativ», da diesen Leuten Diebstahl und Gewalttaten zugeschrieben wurden.

Auf die Migranten, die aus der arabischen Welt in die Schweiz kommen und die zumeist Flüchtlinge sind, trifft das ebenfalls zu. Schon bevor ein Flüchtling in die Schweiz kommt, ist das negative Vorurteil bei den Schweizern schon da – auch wegen der Berichterstattung in den Medien.

Über Araber wird im Zusammenhang mit Terrorismus, Mord, Benachteiligung von Frauen, sexueller Belästigung usw. einseitig berichtet. Andererseits haben gewisse Schweizer eine falsche Vorstellung von Integration, die darin besteht, dass der Ausländer nur dann als integriert gilt, wenn er die schweizerische Identität zu 100% übernimmt.

Könnten sie ihre Haare blond und ihre Augen grün färben, würden sie dies ohne zu zögern tun. Doch das ist nicht die richtige Bedeutung von Integration.

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swissinfo.ch: Was ist dann die richtige Bedeutung von Integration?

O.B.: Integration bedeutet die Verschmelzung zweier Welten zur Bildung einer gemeinsamen Lebensweise. Da ist ihre erste Welt, aus der sie nie entkommen können, selbst wenn sie es noch so sehr versuchten, und dann die neue Welt, in die Sie sich integrieren sollen, deren Traditionen sie zu respektieren haben, deren Gesetze sie einhalten und deren Sprachen sie erlernen müssen.

Der Erfolg eines solchen Prozesses erfordert, dass ein Klima zwischen der Ursprungskultur und der Kultur der neuen Heimat geschaffen wird. Tatsächlich verbietet die Schweiz nicht, dass jeder Ausländer seine Sitten und Gebräuche bewahrt. Sie gestattet sogar, dass jeder seine religiösen Traditionen ausübt.

In den 1960er-Jahren zum Beispiel gab es nur drei Moscheen, heutzutage aber sind Hunderte zu finden. Im schweizerischen Recht ist es erlaubt, sowohl religiöse als auch zivilrechtliche Gemeinschaften und Verbände zu gründen. In den 1970er-Jahren etwa konnte man keine besonderen Restaurants finden, die arabisches Essen oder Halal-Gerichte anboten, aber heute gibt es solche fast in jeder Stadt. 

swissinfo.ch: Gegenwärtig wird über Kopftücher, Schwimmunterricht, Gesichtsschleier und die islamische Begrüssung in der Schule diskutiert. Solche religiösen Forderungen erachten die Muslime als normal. Glauben Sie, das sei die Quelle der Probleme zwischen Schweizern und Muslimen?

O.B.: Ja, das ist die Quelle aller Probleme: Wo steht die Religion im Alltag der Gesellschaft? So eine Frage wurde in der Schweiz vor 150 Jahren gestellt. Wenn Sie heute Versäumtes in einem Dialog nachholen möchten, der schon fünf Minuten vor Ihrer Ankunft begann, wird es Ihnen schwerfallen, das Versäumte zu verstehen. Nun sind schon anderthalb Jahrhunderte abgelaufen!

Was wir Muslime nicht verstehen können, ist diese Trennung zwischen der Religion als eine persönliche Angelegenheit und dem Gesetz sowie der allgemeinen Ordnung an öffentlichen Orten.

Sie haben dieses Problem nur nach langen Kriegen gelöst. Millionen Menschen sind gefallen, bis es soweit war, dass die Religion in die Kirche und ins Zuhause gehörte und das Gesetz im Alltag Anwendung fand.

Das ist der tiefe Grund der meisten Unruhen, die heute zwischen den muslimischen Immigranten und der schweizerischen Gesellschaft entstanden sind. Gehen wir zum Beispiel auf das Problem des Schwimmunterrichts für Mädchen in den Schulen ein: Die muslimischen Familien, die den Kontakt zwischen den beiden Geschlechtern ablehnen, wollen ihre Mädchen von diesen Fächern befreien. Das Schweizer Recht, in dem das Schwimmen als Pflichtfach gilt, steht dem entgegen.

Gewisse muslimische Kreise haben gefordert, das Kreuz aus den Klassenräumen zu entfernen, obwohl sie nicht die Mehrheit in dieser Gesellschaft bilden. Und dies führt zu einem anderen Problem, das darin besteht, dass sich die Muslime zum ersten Mal als Minderheit wiederfinden.

Das ist es, was die Muslime nicht wahrhaben können. Ich frage mich, ob ein christlicher Schüler in Saudi-Arabien solche Forderungen stellen würde, wie dies Muslime im Westen tun. Da wäre die Reaktion wohl viel stärker als jene der Schweizer.

swissinfo.ch: Was ist die Zauberformel, die Sie den Muslimen in der Schweiz vorschlagen, um sich zu integrieren?

O.B.: Das ist eine sehr heikle Frage. Jeder, der in der Schweiz leben will, hat die Hälfte seines Charakters zu bewahren und die andere Hälfte für die neue Heimat zu gewinnen. Ist der Zuwanderer nicht in der Lage, Kompromisse zu finden, wird er die Integration nicht schaffen.

Wer in der Schweiz so leben möchte, wie er das schon im Heimatland getan hat, soll wieder in seine Heimat zurückkehren. Das ist vielleicht das Beste für ihn und für seine Kinder.


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