EMRK zum Jubiläum in der Schweiz unter Druck
Die Schweiz feiert den 40. Jahrestag der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK), aber nicht alle sind mit von der Partie. Die Konvention und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg werden angegriffen, vor allem von der rechts-konservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP).
Am 28. November 1974 ratifizierte auch die Schweiz die 1953 in Kraft getretene Konvention. Zum 40-Jahr-Jubiläum veröffentlichte die Schweizer Regierung diesen Monat einen 74 Seiten langen BerichtExterner Link, der die letzten 40 Jahre, den kontinuierlichen Reformprozess und künftige Perspektiven unter die Lupe nimmt. In dem Bericht verteidigt die Regierung die EMRKExterner Link klar als «zentralen Baustein der europäischen Grundwertegemeinschaft».
«Der Beitritt vor 40 Jahren hat den Rechtsstaat Schweiz mitgestaltet und insgesamt gestärkt; die Konvention hat die gerichtliche Praxis ebenso beeinflusst wie den Katalog der heutigen Bundesverfassung», heisst es im Bericht. Auch wenn nicht alle Strassburger Urteile gleich stark überzeugen könnten, sei die Regierung der Auffassung, dass «die Sicht von aussen» auch für die Zukunft ein wichtiges Anliegen bleibe.
Und: «Die Kündigung der Konvention ist keine Option.»
Dieser Satz fällt auf. Er ist ein Hinweis auf aktuelle Spannungen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)Externer Link und gewisse Strassburger Urteile, vor allem solche, bei denen es um Ausländer und Asyl geht, mussten in letzter Zeit vermehrt Hiebe einstecken.
Ein Urteil des Gerichtshofs von Anfang November, in dem die Schweiz aufgefordert wird, verletzliche Asylsuchende nicht einfach nach Italien zurückzuführen, ohne zuvor Garantien für eine humane Behandlung und altersgerechte Kinderbetreuung einzuholen, sorgte für Ärger.
Angeführt werden die Kritiker von der Schweizerischen Volkspartei (SVP), die mit einer Volksinitiative «Landesrecht vor Völkerrecht» stellen will.
Und gewisse Kreise möchten noch weiter gehen. Am Tag, nachdem der Bericht der Regierung zum 40-Jahr-Jubiläum veröffentlicht worden war, berichtete die Neue Zürcher Zeitung, Verteidigungsminister Ueli Maurer – Mitglied der SVP – habe bei einer Bundesratssitzung die Kündigung der EMRK durch die Schweiz verlangt.
Der Völkerrechtsprofessor Walter Kälin, Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR)Externer Link, erklärte, dies sei eine «ernsthafte und gefährliche» Entwicklung, die auch in Grossbritannien und Russland Thema sei.
«Würden die Schweiz und Grossbritannien die Konvention kündigen, würde dies nicht ein Ende der Menschenrechte in diesen zwei Ländern bedeuten, da beide eine starke Menschenrechtskultur haben, aber es wäre eine Rechtfertigung für viele Staaten, die im eigenen Land keine solche Kultur haben. Und das wäre ein riesiger Rückschritt», sagte Kälin.
Wenige Fälle
Kritiker erwecken den Eindruck, die Schweiz habe in Strassburg eine harte Zeit. Die Statistiken zeigen jedoch eine etwas andere Geschichte. Seit 1974 wurden fast 6000 Beschwerden mit Bezug zur Schweiz registriert, bis Ende 2013 wurden davon nur 3 % für zulässig erklärt; nur bei 1,6% der registrierten Fälle wurde dann letztlich eine Verletzung der EMRK festgestellt.
Der weitaus grösste Teil der Beschwerden wurde als nicht zulässig eingestuft, vor allem wegen mangelnder rechtlicher Grundlage, oder weil die Fälle bereits vor Schweizer Gerichten gelöst wurden.
Wie in den meisten Vertragsstaaten werden die Strassburger Entscheide in der Schweiz nicht mit offenen Armen empfangen. Aber einige Urteile zur Schweiz – wie Belilos (Anspruch auf gerichtliche Überprüfung), Burghartz (Namensrecht der Eheleute) und Jutta Huber (Unparteilichkeit des haftanordnenden Bezirksanwalts), die anfänglich für Kontroversen sorgten, führten schliesslich zu wichtigen Änderungen des rechtlichen Umfelds, die im Verlauf der Zeit generell als richtig anerkannt wurden.
«Es handelte sich nicht um Grundsatzurteile, sondern um eine Reihe von Entscheiden über Details von veralteten Gesetzen. Diese Entscheide führten zu Fortschritten und zogen einen besseren Rechtsschutz nach sich», erklärte Kälin.
Fremde Richter
Der ehemalige Bundesrichter Martin Schubarth erklärte, die Konvention habe gewisse positive Auswirkungen gehabt, die unter anderem zur Einführung des Frauenstimmrechts geführt und die Sensibilisierung für ungerechtfertigte Diskriminierung geschärft habe. In einigen Bereichen mischt sich der EGMR laut Schubarth jedoch zu stark in die nationale Gesetzgebung ein.
«Es ist unannehmbar, dass ein kleines Richtergremium, dem in der Regel die Sachkunde des Gesetzgebers fehlt, in einem undemokratischen Verfahren anstelle des Gesetzgebers handelt», erklärte Schubarth gegenüber dem Blick.
Christoph Blocher, die Galionsfigur der SVP, teilt diese Ansicht. «Trauen wir den Bundesrichtern nicht zu, über Menschenrechts-Fragen zu entscheiden? Wir hatten diese Prinzipien lange vor der EMRK in unserer Verfassung festgeschrieben», erklärte Blocher jüngst in einem Interview mit der Westschweizer Sonntagszeitung Le Matin Dimanche. «Das Problem mit der Konvention ist, dass Dinge aus grosser Distanz entschieden werden. Die Konsequenzen, was danach geschieht, darum kümmern sich die Richter nicht.»
Darauf erwiderte Kälin, die Strassburger Richter sollten nicht als «fremd» betrachtet werden. Indem sie die Konvention und das Zusatzprotokoll von 1994 ratifiziert habe, mit dem der ständige Europäische Gerichtshof in Strassburg formell eingerichtet wurde, habe die «Schweiz freiwillig einen souveränen Entscheid gefällt, die Strassburger Rechtsprechung zu akzeptieren», erklärte Kälin.
Dazu kommt, dass die Schweiz eine oder einen der 47 Richterinnen und Richter ernennen kann, in Moment ist dies Helen Keller. Zudem kann das Land die Wahl des Richtergremiums über seine Delegation bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats beeinflussen. Auch könnten keine Urteile gegen die Schweiz gefällt werden, ohne dass ein Schweizer Gerichtsmitglied daran beteiligt sei, fügte Kälin hinzu.
Kontinuierliche Reformen
In ihrem Bericht erklärte die Regierung, sie beherzige Kritik bei der Abwägung der künftigen Reformen der Konvention und des Gerichtshofes.
Ein möglicher Weg, die aktuellen Spannungen zu entschärfen, wäre, das Subsidiaritätsprinzip stärker zu verankern. Das Prinzip bedeutet, dass die Hauptverantwortung für Garantie und Schutz der Menschenrechte in einem Land in erster Linie bei den Institutionen des Landes selber liegen, bei seiner Regierung, seinen Gesetzgebern und seinen Gerichten – und dass der Strassburger Gerichtshof entsprechend nur subsidiär zum Zug kommen kann und soll.
Kälin erklärte, das sei an sich nichts Neues: «Aber wenn man Beschwerden aus den 1990er-Jahren damit vergleicht, wie gewisse Fälle heute angegangen werden, könnte man den Gerichtshof dafür kritisieren, dass er das Subsidiaritätsprinzip vernachlässigt und zu weit geht.»
Bei einer Vernehmlassung wurde die Frage, ob die Schweiz wie andere Staaten das Protokoll Nr. 15 zur Menschenrechts-Konvention ratifizieren soll, mit dem das Subsidiaritätsprinzip ausdrücklich festgeschrieben und in der Präambel verankert werden soll, von fast allen Parteien begrüsst – mit Ausnahme der SVP.
In einem anderen Bereich haben frühere Reformen, wie etwa die Einführung von Einzelrichtern, dabei geholfen, den Berg hängiger Beschwerden abzubauen. Heute gibt es noch etwa 80’000 hängige Verfahren, 2011 waren es 160’000 gewesen. Beamte erklären, der Gerichtshof sei auf gutem Weg, eine Balance zwischen neuen und abgeschlossenen Fällen zu erreichen, wenn die geplanten Massnahmen weiter umgesetzt würden.
Die Schweiz, die seit den 1990er-Jahren bei den Reformbestrebungen eine aktive Rolle spielt, möchte aber noch weiter gehen. Bei einem Besuch in Strassburg hatte Justizministerin Simonetta Sommaruga jüngst erklärt, sie unterstütze eine für nächstes Frühjahr in Belgien geplante Ministerkonferenz, die sich auf das wichtigste langfristige Problem konzentrieren soll: die Umsetzung von EGMR-Urteilen durch die Mitgliedstaaten.
Tausende von sich wiederholenden oder «Klon»-Fällen, die keine neuen rechtlichen Fragen aufwerfen, sondern nur Fragen betreffen, zu denen der Gerichtshof bereits Urteile erlassen hat, werden immer wieder in Strassburg eingereicht, da Staaten mit strukturellen rechtlichen Mängeln ihre Hausaufgaben nicht erledigen.
«Vielleicht haben die Reformkonferenzen [Interlaken 1998, Izmir 2011 und Brighton 2012] bei verschiedenen Behörden das Bewusstsein etwas geschärft, aber noch bleibt einiges zu tun», erklärte Frank Schürmann, Rechtsexperte beim Bundesamt für Justiz.Die Schweiz feiert den 40. Jahrestag der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK), aber nicht alle sind mit von der Partie. Die Konvention und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg werden angegriffen, vor allem von der rechts-konservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP).
Zwischen 1959 und Ende 2013 wurden in Strassburg insgesamt 644’357 Beschwerden registriert. 22’764 davon (4%) endeten mit einem Urteil.
Die meisten Beschwerden kamen aus Russland (16,8%), Italien (14,4%), der Ukraine (13,3%), Serbien (11,3%) und der Türkei (11%). Die Hälfte aller Urteile betrafen fünf Staaten: Türkei (2994), Italien (2268), Russland (1475), Polen (1042) und Rumänien (1026).
In den Fällen, die zu einem Urteil führten, stellte der Gerichtshof in 83% der Fälle mindestens eine Verletzung der EMRK fest und verurteilte den beklagten Staat. Im Durchschnitt kommt es in 95% der in Strassburg registrierten Fälle zu keinem Urteil, weil die Fälle als unzulässig erklärt oder aus dem Register gestrichen werden.
Zwischen 1974 und Ende 2013 wurden in Strassburg insgesamt 5940 Beschwerden gegen die Schweiz registriert – die Hälfte nach 2002 –, wovon 5516 (etwa 93%) als unzulässig erklärt oder aus dem Register gestrichen wurden. 2013 waren 445 Beschwerden oder 0,55 pro 10’000 Einwohner registriert worden (der Durchschnitt für alle Vertragsstaaten lag 2013 bei 0,8 pro 10’000 Einwohner).
Zwischen 1974 und Ende 2013 ergingen in 125 Schweizer Fällen endgültige Urteile/Entscheide. Weniger als 1,6% aller Beschwerden mit Bezug zur Schweiz, die in Strassburg registriert wurden, führten zu einer Verurteilung. Im Durchschnitt dauerte es 4 bis 5 Jahre, bis ein Fall abgeschlossen wurde.
Die Europäische Menschenrechts-Konvention (EMRK) war die erste Konvention in der Geschichte des Europarats und sie bleibt ein zentraler Baustein, auf dem diese europäische Staaten- und Wertegemeinschaft fusst. Die Konvention wurde 1950 verabschiedet und trat 1953 in Kraft. Heute ist die Ratifikation der Konvention Voraussetzung für einen Beitritt zum Europarat.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) überwacht die Umsetzung der Konvention in den 47 Europarats-Mitgliedstaaten. Privatpersonen oder juristische Personen können bei dem Gerichtshof in Strassburg Beschwerde wegen Menschenrechtsverletzungen einreichen, wenn sämtliche nationalen Rechtsmittel im betroffenen Mitgliedstaat ausgeschöpft sind.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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