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Ende eines Monsters, aber nicht der Al-Kaida

Dominierendes Thema auf allen Zeitungen: Das Ende des Massenmörders. swissinfo.ch

Als "gute Botschaft für die Welt", als "seltene Stunde des Triumphs für die USA" und als "Ende der Demütigung" bezeichnet die Schweizer Presse den Tod von Bin Laden. Damit sei die terroristische Gefahr allerdings nicht vom Tisch, urteilen die meisten Kommentatoren.

«Bin Laden ist weg, die Al-Kaida bleibt!», schreibt der Blick und verweist auf die vielen Al-Kaida-Ableger «von Saudi-Arabien bis Indonesien».

Für die Berner Zeitung haben die USA zwar «das Duell gegen Bin Laden» gewonnen, aber «seine Saat» wirke weiter, schreibt das Blatt. Denn das Terrornetzwerk Al-Kaida habe sich «längst verselbstständigt» und Bin Laden sei «zur Marke» geworden».

«Die Schlange ist enthauptet, aber es könnte sein, dass es die Welt nun mit einer neunköpfigen Hydra zu tun haben wird», schreibt der Corriere del Ticino: «Als Toter kann Laden ein gefährlicheres Symbol werden, denn als lebender Inspirator.»

Auch für den Berner Bund ist der islamistische Terror «nicht ausgerottet». Man müsse als Reaktion «im Gegenteil mit neuen Attentaten rechnen», dennoch sei nun «die Leitfigur der islamistischen Fanatiker eliminiert». Deshalb gebe es «eine gewisse Hoffnung, dass Bin Ladens Tod zusammen mit der arabischen Revolution längerfristig zu einer spürbaren Schwächung des Islamismus und des Terrorismus führen könnten».

Revolution ohne Bin Laden

Für den Zürcher Tages Anzeiger hat – mit Blick auf die «dramatischen Veränderungen in der ganzen arabischen Welt» – die «Revolution tatsächlich begonnen. Aber ohne Bin Laden».

Dessen Strategie, «den Gegner wirtschaftlich auszubluten und die Herzen der muslimischen Massen zu gewinnen» sei «grandios gescheitert», schreibt der Tages Anzeiger.

Bin Laden habe in seiner «einsamen kleinen Welt hinter dicken Mauern in Pakistan» genau so wenig wie die lokalen Terrorfürsten, die «wachsende Ablehnung seiner gewalttätigen Botschaft in der islamischen Welt» nicht bemerkt.

Die Menschen dort träumten «nicht vom heiligen Krieg und einem Leben wie zu Zeiten Mohammeds», sondern von «Freiheit, Chancengleichheit, Respekt», schreibt der Tages Anzeiger. Es sei kein Zufall, dass Bin Laden «die arabische Revolution erst entdeckte, als Tunesiens Ben Ali und Ägyptens Mubarak längst gestürzt waren».

Grosserfolg für Obama

Für die Neue Zürcher Zeitung die «brillante Kommandoaktion» eine «seltene Stunde des Triumphs für Amerika» und ein «erlösender Durchbruch».

Die seit den 1990er-Jahren «offene Akte» Bin Laden sei ein «schwerer, scheinbar unauslöschbarer Makel einer sonst durchaus erfolgreichen Anti-Terror-Politik» gewesen. Darum sei die Kommandoaktion ein «gewaltiger Erfolg» für die USA und deren Präsidenten Barack Obama, «auch wenn es wünschenswert gewesen wäre, den Massenmörder lebend zu ergreifen und vor Gericht zu stellen», schreibt die NZZ.

Dass es den USA kurz vor dem zehnten Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center gelungen sei, «das Verbrechen mit fast 3000 Todesopfern» zu sühnen, werde «erhebliche» politische Auswirkungen haben folgert das Blatt: «Das Gefühl, das Kapitel geschlossen zu haben, wird es dem Land ermöglichen, vermehrt nach vorne zu schauen».

Präsident Barack Obama habe mit dem Erfolg nun politisch ein leichteres Spiel, das militärische Engagement in Afghanistan zu reduzieren und «so ein weiteres Wahlversprechen einzulösen».

Zehn Jahre Vorabend

Als amerikanischen «12. September» bezeichnet der Genfer Le Temps die Operation und räumt ein, dass sich «der Vorabend über zehn Jahre» lang hingezogen habe. Amerika habe zehn schwierige Jahre hinter sich und an seinem Status «als Supermacht und seiner Rolle in der sich verändernden Welt» gezweifelt.

Diese Zweifel hätten auch den Handlungsspielraum von Präsident Obama eingeschränkt. «Heute ist es dieser Präsident, der mit dem Habitus eines grossen Priesters das Opfer präsentiert und dessen Körper im Meer versenkt.»

Obama werde sich nicht auf diesen «symbolischen Akt» beschränken. Die Mission der US-Truppen in Afghanistan könnten nun neu definiert, die Budgets für Sicherheit und Geheimdienste neu gekürzt werden, so Le Temps.

Laut Albert Stahel, Strategie-Experte der ETH Zürich, wird Bin Laden nun zum Märtyrer, quasi in den Stand der Heiligen gehoben. «Sein Tod ist ein Signal an den Rest von Al-Kaida und soll den Mitgliedern Triebkraft für weitere Aktionen sein.» Stahel rechnet mit Racheakten, insbesondere gegen US-Institutionen und US-Bürger.

Für die USA sei die «Nach-9/11-Periode» nun vorbei, die US-Operation in Afghanistan bald abgeschlossen. «Präsident Obama kann jetzt sagen: ‹Wir haben Al-Kaida besiegt und können uns aus Afghanistan zurückziehen›.»

 

Der Schweizer Strategie-Experte vermutet, dass es zwischen den Pakistani und den Amerikanern einen Deal gegeben hat. «Denn ohne die Pakistani wären solche Operationen nicht möglich.»

Bin Laden sei solange nicht gefasst worden, weil er von Pakistan beschützt und auch als Druckmittel gegenüber den Amerikanern verwendet worden sei, um mehr Einfluss zu haben.

Nun habe man Bin Laden aufgebeben und vermutlich eine Gegenleistung verlangt, so Stahel. «Ich habe den Eindruck, dass der US-Rückzug aus Afghanistan eine wichtige Rolle spielt. 2014 – der Beginn des US-Truppenabzugs – ist ein wichtiger Faktor, den man nicht vergessen sollte.»

Interview: Simon Bradley, swissinfo.ch

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