Wie die Schweiz ein gerechteres Wahlsystem schuf
Im Jahr 1918 beschliesst das Schweizer Volk Historisches: Die Einführung des Verhältniswahlrechts. Wie kam es dazu und welche Auswirkungen hatte das neue System auf das Wahlverhalten der Bürger?
Im Jahr 1847 tobte in der Schweiz der Sonderbundskrieg. Er endete am 29. November mit dem Sieg der protestantischen Kantone und mit der politischen Hegemonie des Freisinns. Bereits im folgenden Jahr stand die Verfassung, die erste der neuen Eidgenossenschaft, und sie war stark vom liberalen Geist geprägt. Die Liberalen betrieben fortan eine Politik der schnellen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Sie verwandelte die Schweiz innert wenigen Jahren zu einem der fortschrittlichsten Staaten in ganz Europa. Doch der Wandel hatte seinen Preis.
Politik und Wirtschaft verschmolzen zum so genannten System EscherExterner Link, bei dem die politische und die industrielle Elite das Sagen hatte. Viele Bürger wehrten sich, weil sie das System als sehr unfair betrachteten. Die liberale VolksbewegungExterner Link, die in den Kantonen entstanden war, erkämpfte sich 1874 schliesslich die erste Gesamtrevision der Verfassung.
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Diese Revision gewährte den Schweizerinnen und Schweizern das Recht, Gesetze, die bereits vom Parlament verabschiedet worden waren, dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Dadurch wurde das System Escher seiner Grundlage beraubt: Der Fähigkeit, uneingeschränkten Einfluss auf die Gesetzgebung auf Bundesebene auszuüben. Eine zentrale Ungerechtigkeit war damit aus der Welt geschafft.
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Die Schweiz am Rande eines Bürgerkriegs
Auf der Suche nach einem gerechteren System
Viele Bürger störten sich aber zunehmend auch am Wahlsystem im Parlament. Ihnen missfiel, wie der Stände- und vor allem der Nationalrat gebildet wurden.
Damals geschah dies nach der Mehrheitsregel, genannt Majorz: Kandidaten galten als gewählt, wenn sie in ihren jeweiligen Wahlkreisen, also ihren Kantonen, die Mehrheit der Stimmen erhielten. Dieses Prinzip half besonders den kantonalen Eliten. Diese hatten die Mittel, Stimmen zu holen: Sie hatten sich während des schnellen wirtschaftlichen Aufschwungs der 1840er- und 1880er-Jahre grosse materielle und administrative Ressourcen angehäuft.
Das Mehrheitssystem konnte jedoch die politische Landschaft der Schweiz nicht angemessen abdecken.
Über diese Ungerechtigkeit und über mögliche Veränderungen wurde in der Folge viel und heftig debattiert. Vor allem die Sozialisten bekämpften das Majorzsystem erbittert. Aber ohne breite Zustimmung in der Bevölkerung würde sich nichts ändern.
Und diese stand einer Veränderung vorerst skeptisch gegenüber. So wurde beim Referendum vom 4. November 1900Externer Link eine entsprechende Proporzinitiative von einer Mehrheit der Schweizer Volkes abgelehnt. Auch in der Volksabstimmung vom 23. Oktober 1910Externer Link resultierte ein Nein. Erst beim Referendum vom 13. Oktober 1918Externer Link wurde der Änderung zum Proporzsystem deutlich zugestimmt: mit 66,8 Prozent. Was war geschehen? Was hatte zum allgemeinen Wandel geführt?
Auswirkungen des Weltkriegs
Die Befürworter der Mehrheitswahl hatten dieses System verteidigt, indem sie an die politische Moral appellierten. Aus ihrer Sicht war ein Proporzsystem ein «fremdländisches Gewächs», das das Parlament spalten und die traditionellen Parteien eliminieren könnte. Ohne eine klare parlamentarische Mehrheit, so argumentierten sie, würde das Land in «Verwirrung und Anarchie» versinken. «Proporz heisst Gerechtigkeit» lautete die Antwort ihrer Gegner, die meist aus dem linken katholischen Lager stammten.
Dann kam der Erste Weltkrieg, und vieles änderte sich. Die Schweiz als neutrales Land blieb zwar von Krieg verschont, aber die negativen Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft waren gross: Es herrschte Nahrungsmittelknappheit und die sozialen Probleme verschärften sich.
Wie es allgemein in solchen Zeiten der Fall ist, forderte das Volk einen politischen Wandel. Bei den Parlamentswahlen vom 28. Oktober 1917 errangen die Liberalen in der kleinen Kammer aber erneut die absolute Mehrheit. Alle Hoffnungen auf Reformen wurden zunichte gemacht. So fand das Referendum vom 13. Oktober 1918 in einer Atmosphäre statt, die von einer dramatischen Verschlechterung der sozialen und politischen Situation im Land geprägt war.
Am Rande der Revolution
Weil die Ergebnisse der Parlamentswahl von 1917 für die Linken absolut inakzeptabel waren, verstärkten sie ihre Versuche, Einfluss zu nehmen – sehr zum Unmut der Kräfte aus dem rechten Lager. Sie warfen den Linken die Verletzung des politischen Friedens («Burgfrieden») vor und beschuldigten sie, Agenten des Bolschewismus zu sein. Sie forderten den Bundesrat dazu auf, mit Truppen die Lage zu beruhigen.
Der Konflikt drohte die Schweiz zu spalten. Der Bundesrat musste sich entscheiden: Sollte er den Linken Zugeständnisse machen oder aber repressiv gegen sie vorgehen? Er entschied sich für letztere Option und drohte damit, die «linke bolschewistische Agitation» mit Waffengewalt niederzuschlagen. Die Emotionen kochten hoch, und die Linke drohte im Gegenzug mit einem Generalstreik.
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Inwieweit war der linke Aufstand in der Tat eine revolutionäre Bedrohung für die Schweiz? War der Einsatz von Truppen eine zu harte Massnahme? Diese Frage wird noch immer diskutiert. Doch wie man es dreht und wendet: Die Emotionen im Land kochten wegen des Weltkriegs und des bolschewistischen Putsches in Russland hoch.
Am 1. Oktober 1918 traten Bankangestellte in Zürich in den Streik, unterstützt wurden sie von linken Gewerkschaften. Für die Rechten war die Arbeitsniederlegung mehr als ein beunruhigendes Zeichen dafür, dass einige bürgerliche Schichten sich mit der Linken verbünden könnten. Der prominente Schweizer Jurist und Rechtstheoretiker Fritz Fleiner kanalisierte die Ängste und schrieb in einem Artikel für die NZZ: Der Streik der Banker sei «eine Generalprobe, um die Schweiz zu einem bolschewistischen Land zu machen».
Vor diesem Hintergrund ging das Referendum vom 13. Oktober 1918 fast unter. 66,8 Prozent der Bürger stimmten für die Proporzwahl des Nationalrates. Heute gilt diese Abstimmung als bedeutender Meilenstein in der Schweizer Geschichte. Aber damals standen bei vielen Bürgern die übergeordneten Entwicklungen im Fokus.
Die Armee besetzt Zürich
So forderte der Jurist Fritz FleinerExterner Link am 25. Oktober den Bundesrat direkt dazu auf, die linke Propaganda einzudämmen. In der ganzen Schweiz würden sich bolschewistische Spione herumtreiben, behauptete er. Am 31. Oktober 1918 ersuchte der Kanton Zürich offiziell die Regierung, Truppen zu entsenden. Der Bundesrat wartete mit seiner Antwort ab. Denn der Höhepunkt des «linken Ungehorsams» sollte bald darauf stattfinden, am 10. November, wenn die Schweizer Linke den ersten Jahrestag der russischen Revolution feiern wollte.
Die Militärbehörden werteten diese abwartende Position der Regierung als Verrat. Der französische Botschafter in der Schweiz war derselben Meinung und legte dem Bundesrat einen Brief vor, in dem er ihn für seine Zurückhaltung kritisierte. Er forderte ein härteres Vorgehen gegen «die Bolschewisierung des Landes». Seine Einmischung war wirkungsvoll: Sie war mit ein Grund, weshalb der Bundesrat am 6. November 1918 den Einsatz militärischer Gewalt beschloss. Am Abend dieses Tages übernahm die Armee die Kontrolle über Zürich. Gleichzeitig brach der Bundesrat offiziell die Beziehungen zum sowjetischen RusslandExterner Link ab.
Die Linke reagierte. Das Oltener AktionskomiteeExterner Link, das im Februar 1918 aus Widerstand gegen die Einführung der allgemeinen Zivildienstpflicht gegründet worden war, organisierte einen GeneralstreikExterner Link. Dieser dehnte sich auf 19 Städte aus, Zürich war das Zentrum. Am Morgen des 10. November, es war ein Sonntag, kam es zu Zusammenstössen zwischen Armee und Teilnehmern der Jahrestagungen der russischen Revolution. Es fielen Schüsse. Ein Soldat starb, drei Demonstranten wurden verwundet. Was sollte das Aktionskomitee nun tun?
Sollte es den Aufstand zu einer bewaffneten Revolte eskalieren lassen? Sollte es nichts tun? Einer der Vorsitzenden des Komitees, ein prominenter Sozialist namens Robert GrimmExterner Link, fand eine Lösung: Er stellte eine Liste von Forderungen zusammen und übergab sie dem Bundesrat. Darauf stand unter anderem das Frauenstimmrecht und die sofortige Neuwahl des Nationalrates nach dem Proporzsystem. Schliesslich hatten sich die Bürger im jüngsten Referendum am 13. Oktober dafür ausgesprochen.
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Historische Entscheidung
Um zu zeigen, dass es das Komitee ernst meinte, rief es am 11. November 1918 erneut zum Generalstreik auf. Am 12. November fand in Bern eine ausserordentliche Parlamentssitzung statt, an der auch Robert Grimm teilnahm. Der Bundespräsident, Felix CalonderExterner Link, versprach in seiner Rede, die Interessen der Sozialdemokraten zu berücksichtigen und ihnen eine umfassendere Regierungsverantwortung zu übertragen. Im Anschluss an seine Rede hielt Grimm eine eigene Ansprache. Aber er sprach zu all jenen, die sich vor dem Bundesplatz in Bern versammelt hatten.
Er formulierte erneut seinen Katalog an Forderungen und machte deutlich, dass die Linken bereit waren, ihre Ziele mit legitimen Methoden zu erreichen, und dass sie Reformen unterstützten, auf die Felix Calonder bereits hingewiesen hatte.
Die Forderung von Grimm, eine Kommission einzusetzen, die eine sofortige Umbildung des Bundesrates zugunsten der Linken und die sofortige Neuwahl des Nationalrates nach dem Proporzsystem vorbereiten soll, wurde jedoch von der bürgerlichen parlamentarischen Mehrheit mit 120 Stimmen gegen 14 abgelehnt. Der Bundesrat musste die Verhandlungen mit dem Oltener Aktionskomitee abbrechen. Zudem wies sie am 12. November sämtliche sowjetische Botschafter aus. In der Nacht vom 13. zum 14. November beschloss das Oltener Komitee schliesslich, den Streik abzusagen.
So wurde der Weg frei für parlamentarische Neuwahlen, aber nun auf der Grundlage des Proporzsystems. Die Wahl wurde ein Jahr später – am 26. Oktober 1919 – abgehalten. Die Liberalen (FDP) verloren auf einmal fast die Hälfte ihrer Sitze. Die Gewinner waren die Sozialisten (SP) und die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (heute die SVP). So gelang es den linken Kräften, ihre politische Schlagkraft deutlich zu erhöhen. 1943 wurde schliesslich zum ersten Mal ein Sozialdemokrat ins höchste Gremium gewählt: Ernst NobsExterner Link. Er war 1919 im Zusammenhang mit dem Landesstreik von einem Militärgericht zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Im gleichen Jahr hatte er den Sprung in den Nationalrat geschafft.
Proporz und Majorz
Das Volk wählt in der Schweiz das Parlament.
Das sogenannte Zweikammersystem besteht aus dem Stände- und Nationalrat. Die Ständeräte werden im Majorzsystem gewählt: Die Mehrheit gewinnt.
Beim Nationalrat ist es komplizierter: Die Parteien erhalten ihre Sitze im Verhältnis zu den erzielten Parteistimmen, das wird Proporz genannt. Das Proporzsystem geht davon aus, dass nicht einzelne Abgeordnete für die Politik entscheidend sind, sondern politische Parteien und ihre Programme. Deshalb werden beim Proporzwahlrecht die Sitze proportional zur Anzahl der für eine bestimmte Partei abgegebenen Stimmen an die Parteien verteilt.
(Übertragung aus dem Russischen: Christoph Kummer)
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