Wird der Markt der Atomkraft den Stecker ziehen?
Nach dem Nationalrat hat sich am 9. März auch der Ständerat dagegen ausgesprochen, die Laufzeit von Kernkraftwerken zu beschränken. Doch mehr als politische Entscheide könnten vielleicht die Marktkräfte schon bald zu einer Abschaltung der Reaktoren führen. an ein solches Szenario glaubt ein Schweizer Energiespezialist.
Mit 30 gegen 12 Stimmen sagte der Ständerat (Kantonskammer) klar Nein zur Volksinitiative «Für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie (Atomausstiegs-InitiativeExterner Link)». Dieser Vorschlag der Grünen Partei verlangt, dass die Schweizer Atomkraftwerke 45 Jahre nach Inbetriebnahme endgültig vom Netz genommen werden.
Wie ihre Kollegen vom Nationalrat in der Woche zuvor ziehen die Ständeräte einen schrittweisen Ausstieg aus der Kernkraft vor, wie dies in der Energiestrategie 2050Externer Link des Bundes festgehalten ist. Diese sieht keine Laufzeitbeschränkung vor.
Doch jüngste Ereignisse deuten darauf hin, dass sich der Atomausstieg beschleunigen könnte. Letzte Woche haben die Bernischen Kraftwerke AG angekündigtExterner Link, dass sie ihr AKW Mühleberg nahe der Hauptstadt Bern auf den 20. Dezember 2019 definitiv abstellen werden.
AlpiqExterner Link, der grösste Stromanbieter der Schweiz und Betreiber der beiden Kernkraftwerke Leibstadt (Kanton Aargau) und Gösgen (Kanton Solothurn), wird von chronischen Defiziten geplagt. Er kündigte kürzlich an, zur Deckung seiner Verluste 49% seiner Staudamm-Anlagen zu verkaufen. Zudem deckte die Basler Zeitung auf, dass Alpiq Pläne ausarbeiten lässt, seine beiden AKW verstaatlichen zu lassen.
Auch für die beiden Meiler der AxpoExterner Link in Beznau (ebenfalls im Kanton Aargau) sieht die Situation nicht rosig aus. Beznau II wurde nach Revisionsarbeiten wieder hochgefahren, doch Beznau I, das älteste AKW der Welt, steht gegenwärtig wegen Problemen still, und das möglicherweise für immer.
Für Roger NordmannExterner Link, Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei und Spezialist für Energiepolitik, sind die Schwierigkeiten des Atomkraft-Sektors keine Überraschung, wie er im Interview erklärt.
swissinfo.ch: Was halten Sie von den Ankündigungen der Kernkraft-Produzenten?
Roger Nordmann: Endlich haben die Stromproduzenten zugegeben, was man schon lange wusste, nämlich, dass sie mit jeder produzierten Kilowattstunde Geld verlieren.
Konkret verrechnen Beznau und Gösgen ihren Aktionären pro Kilowattstunde fünf Rappen, und die Aktionäre – Axpo und Alpiq – müssen diese auf dem Markt für drei Rappen weiterverkaufen. Das heisst, sie verlieren zwei Rappen mit jeder Kilowattstunde.
Die Situation wird für die hoch verschuldete Alpiq untragbar, und bald schon wird auch Axpo leiden. Deshalb suchen diese beiden Unternehmen verzweifelt nach möglichen Auswegen. Zudem sind sie mit Verträgen untereinander und mit ihren gemeinsamen Tochtergesellschaften verbunden, weshalb sie sich nicht aus diesen Verträgen und den Verpflichtungen herauslösen können. Sie sind also Geldvernichtungs-Maschinen.
swissinfo.ch: Schockiert Sie die Idee, dass die Betreiber die heisse Kartoffel dem Staat übergeben wollen?
R.N.: Ein AKW zu betreiben bedeutet, dass man viele Investitionen tätigen muss, dann ein wenig Strom verkaufen kann und schliesslich enorme Kosten für den Rückbau schultern muss, weil das Kraftwerk radioaktiv verseucht ist und die Abfälle während tausender Jahre verwaltet werden müssen. Die Stromproduzenten haben Geld zur Seite gelegt für den Rückbau, wie es das Gesetz es vorschreibt, aber es ist nicht genug. Deshalb muss am Schluss sowieso der Staat zahlen.
Das Problem ist, dass die Atomkraftwerke bereits Verluste einfahren und dies an der Substanz ihrer Betreiber nagt. Das ist einer der Gründe, warum Alpiq Geld verliert. Weil niemand Beteiligungen an AKW kaufen will, hat Alpiq keine andere Wahl, als seine Staudämme zu verkaufen, um dieses Atomloch zu stopfen.
Wir sagen, dass man jetzt den Stier bei den Hörnern packen muss. Lassen wir sie noch zehn oder zwölf Jahre so weitermachen, wird das Loch nur grösser, und der Steuerzahler wird noch mehr bezahlen müssen.
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Deshalb geht nun die Hypothese einer Auffanggesellschaft herum. Diese würde die Kernkraftwerke übernehmen, die drei kleinen Kraftwerke sofort schliessen und für die beiden grossen Werke (Leibstadt und Gösgen, N.d.R.) eine relativ baldige Abschaltung planen.
Das Ziel wäre, die Verluste einzugrenzen, denn konkret schätze ich, dass die Stromproduzenten mit ihren AKW auf nationaler Ebene jährlich mindestens 300 Millionen Franken Verluste einfahren. Wenn wir dieses Loch Jahr für Jahr weiter finanzieren, riskieren wir, die Schweizer Strombranche zu beerdigen und deren besten Trümpfe zu verschleudern.
R.N.: In der Energiestrategie 2050 ist bereits Hilfe für Wasserkraftwerke vorgesehen. Wer seinen Strom aus Wasserkraft auf dem Grosshandelsmarkt verkaufen muss, soll mit einem Rappen pro Kilowattstunde unterstützt werden – das nennt man eine Marktprämie. Damit soll ihnen während fünf Jahren durch diese schwere Zeit geholfen werden.
Doch die Strompreise sind sehr veränderlich, auch bei der Wasserkraft. Ist ein Staudamm bereits amortisiert, ist es viel preiswerter als mit einem neuen Kraftwerk. Ohne Zweifel ist der europäische Strommarkt völlig unausgewogen, nicht nur wegen der billigen Kohle, sondern auch und zuallererst, weil es ein Markt der Grenzkosten ist.
Das bedeutet, jedes Produkt wie auch der Marktpreis liegen über diesen Grenzkosten, um eine zusätzliche Stromeinheit zu erzeugen. Doch mit diesem System ist der Preis nicht hoch genug, um die anfängliche Investition zu amortisieren. Deshalb werden in Europa nur Kraftwerke gebaut, die durch den Staat geförderte erneuerbare Energien oder subventionierte Atomenergie produzieren. Dies gilt auch für Kohle und billiges Gas. Aber der Trend ist derzeit, von diesen dreckigen Energien wegzukommen.
Dies erklärt, warum die Preise niedrig sind und auch in nächster Zeit nicht erhöht werden. Ein weiterer Aspekt ist, dass die Energieeffizienz-Gewinne in Europa langsam zu greifen beginnen. Seit 2010 ist eine leichte Abnahme des Energiekonsums festzustellen. In der Schweiz bleibt er stabil, während er vorher stark zugenommen hatte.
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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