Ensi-Unabhängigkeit erneut in Frage gestellt
Die Risse im Kernmantel des AKW Mühleberg seien "unter Kontrolle", versichert das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi). Die Aufsichtsbehörde des Bundes leiste PR-Dienste für die Mühleberg-Betreiberin BKW, kritisiert die Organisation Fokus Anti-Atom.
Vor wenigen Tagen erst haben die Bernischen Kraftwerke (BKW) das Atomkraftwerk Mühleberg überraschend abgeschaltet, fünf Wochen vor der geplanten Jahresrevision.
Der Grund: Die Wasserzufuhr aus der Aare, unverzichtbar für das Notkühlsystem, soll erweitert werden, damit ihr auch ein Extremereignis wie ein Jahrtausend-Hochwasser oder ein Bruch des Wohlensee-Staudamms nichts anhaben kann.
Jetzt steht das AKW Mühleberg bereits wieder im Fokus der Medien: Wie die Zeitschrift «Beobachter» meldete, ist im Kernmantel des Reaktors erstmals ein Riss festgestellt worden, der die Metallhaut des neun Meter hohen Stahlzylinders vollständig durchdringt.
«Risse im Kernmantel Mühleberg unter Kontrolle», versicherte das Ensi umgehend auf seiner Homepage. Trotz der Risse erfülle der Kernmantel in Mühleberg seine sicherheitstechnischen Aufgaben, das Sicherheitskonzept sei nicht geschwächt. Die Aufsichtsbehörde illustriert dies anhand einer Animation, die von den BKW stammt, der Betreiberin der Anlage in Mühleberg.
«BKW-Propaganda»
Für Markus Kühni vom Fokus Anti-Atom, einer Organisation, die sich an vordester Front für die Stilllegung des AKW Mühleberg und der anderen vier Atomkraftwerke in der Schweiz einsetzt, stellt das Aufschalten eines «Propaganda-Videos der BKW» den «neuesten Tiefpunkt» in der Tätigkeit des Ensi dar. «Es ist nicht Aufgabe der Aufsichtsbehörde, PR-Dienste für die BKW zu leisten», sagt Kühni gegenüber swissinfo.ch.
Peter Flury, Mitglied der Ensi-Geschäftsleitung und Mitautor des aufgeschalteten Dokuments, wollte gegenüber swissinfo.ch nicht mehr zu Kühnis Vorwürfen Stellung nehmen, da er sich bereits dazu geäussert habe. Dem Berner Bund hatte Flury gesagt, die animierte Grafik der BKW diene «ausschliesslich dazu, die räumliche Situation des Kernmantels anschaulich zu zeigen».
Fokus Anti-Atom machte seinem Unmut in einem offenen Brief an das Ensi Luft. Darin hebt die Organisation insbesondere hervor, dass der Kernmantel «diverse zentrale Funktionen im Reaktordruckbehälter wahrnimmt». Das Ensi dagegen setze den Kernmantel vorab mit der Strömungsführung für das Kühlwasser in Zusammenhang.
«Notabschaltung gefährdet»
Schäden am Kernmantel könnten zu einer Verschiebung der Gitter führen, die im Inneren des Reaktors zur Führung der Brennelemente und Steuerstäbe dienten, erklärt Kühni. Würden sich Brennstäbe verschieben, könnten sich die Steuerstäbe verkeilen, was schlimmstenfalls eine Notabschaltung des Reaktors vereitelt, warnt er.
Kühni verweist auf ein vom Ensi bestelltes, dann aber geheim gehaltenes Gutachten des deutschen TÜV Nord, welches diese und diverse andere kritische Sicherheitsfunktionen des Kernmantels auflistet. Die Herausgabe des Gutachtens mussten Anwohner des AKW Mühleberg vor Gericht erstreiten.
Was Fokus Anti-Atom als besonders stossend empfindet: Obwohl der durchgehende Riss bereits 2009 entdeckt worden war, habe es das Ensi nicht für nötig befunden, ihn in seinem Jahresbericht zu erwähnen.
Wie fundiert Kühnis Analysen sind, zeigte sich bereits bei der eingangs erwähnten Wasserzufuhr für das Notkühlsystem. Im vergangenen Februar hatte Kühni einen Bericht entworfen, in dem er davor warnte, dass im Falle eines Bruchs des Wohlensee-Damms knapp oberhalb des AKW Mühleberg die Zufuhr von Kühlwasser für das letzte, nach der Überflutung noch verbleibende Notsystem ausser Kraft gesetzt würde. Dies, weil die Zuleitung durch Schwemmgut und Geschiebe verstopft würde.
Bestätigung durch Fukushima
Die Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima nach dem schweren Erdbeben und dem Tsunami vom 11. März hat dann Kühnis Szenario in fataler Weise aktuell gemacht: Weil die Kühlwasserleitungen verstopften, kam es in der Anlage zur dreifachen Kernschmelze – der grösste GAU seit Tschernobyl 1986 wurde Tatsache.
Drei Tage nach Fukushima hat Kühni seinen in aller Eile präsentabel gemachten Bericht dem Ensi und den BKW zur «Stellungnahme und Berichtigung» vorgelegt. Weil er tagelang keinerlei Reaktion bekam, ging er mit Hilfe von Fokus Anti-Atom an die Öffentlichkeit. Seither hat er vom Ensi keine Antworten mehr bekommen.
In einem Gutachten über die Flutgefahr bei einem Extremereignis in Mühleberg kamen Hydrologen der ETH Zürich aber zum selben Schluss wie der Berner Informatiker. Danach griff die BKW zur Abschaltung als Sofortmassnahme.
Dabei hätte das Aufsichtsorgan bereits im Dezember 2009 von Gesetzes wegen aktiv werden müssen: Damals hatte im südfranzösischen Atomkraftwerk Cruas Treibgut aus der Rhone das Kühlsystem verstopft. Der Störfall führte zum Not-Aus des Reaktors.
Externe Experten gefordert
Mittlerweile reicht die Kritik an der mangelnden Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörde von den atomkritischen Organisationen und Parteien auf der linken Seite bis in bürgerliche Kreise hinein.
Hans Grunder, Präsident der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP), sagte gegenüber der SonntagsZeitung (neueste Ausgabe), «die Sensibilität für die Wichtigkeit der Unabhängigkeit ist beim Nuklearinspektorat nicht vorhanden». Dies habe auch der Rücktritt von Peter Hufschmied als Chef des Ensi-Rates vom Juni gezeigt. Hufschmied war zu grosse Nähe zu den AKW-Betreibern, insbesondere zur BKW, nachgesagt worden. Grunder forderte, dass dem Gremium externe Experten beigestellt werden.
Um das Vertrauen in die Atom-Aufsichtsbehörde zu stärken, fordert Kühni eine Neufassung des Ensi-Gesetzes nach den Grundsätzen, die der Bundesrat in seiner damaligen Botschaft dargelegt hatte. «Bevor es im Parlament offenbar verwässert wurde, ging es in erster Linie vom Gegensatz zwischen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen aus», sagt Kühni.
Risikostudien, aber auch andere Gutachten zu Erdbeben, Überflutung, Baustatik etc. sollten nicht mehr durch die AKW-Betreiber, sondern stattdessen durch das Ensi vergeben werden. Institute, die solche Studien verfassen, sollten auch bestimmte Unabhängigkeits-Kriterien erfüllen, so Kühni.
Transparenz statt Geheimniskrämerei
Als dringend nötig erachtet er auch Whistleblower-Strukturen für Ensi-Mitarbeiter. «Sie sollten die Möglichkeit erhalten, ja gesetzlich verpflichtet sein, über Missstände zu berichten, ohne persönlichen Schaden befürchten zu müssen».
Wichtigster Punkt ist für Kühni aber die Herstellung von Transparenz. «Das Ensi betreibt Geheimniskrämerei und gibt Informationen und Dokumente nur frei, wenn es dazu gezwungen ist. Es sollte aber gerade umgekehrt sein: Alle Informationen sollten frei sein. Falls das Ensi Dokumente zurückbehalten möchte, müsste es einen entsprechenden Antrag bei einer unabhängigen Bundesstelle stellen», lautet sein Vorschlag.
Auch dann noch sollte es für Interessierte nach Absolvierung einer Unbedenklichkeitsprüfung ein Einsichtsrechts geben. Einen solchen Check habe er auch schon als Mitarbeiter bei einem sensiblen Telematikprojekt des Bunds durchlaufen müssen. Auch würde es Kühni nicht stören, wenn die Einsichtnahme je nach Bedarf unter der Auflage erfolgen würde, Geschäftsgeheimnisse nicht weiter zu geben.
Als Konsequenz aus der Katastrophe von Fukushima hat die Schweizer Regierung im Mai den Ausstieg aus der Atomenergie bis 2034 beschlossen.
Damit will die Regierung die Laufzeit der fünf Schweizer AKW Beznau I und II, Mühleberg, Gösgen und Leibstadt auf 50 Jahre begrenzen.
Der Nationalrat ist dem Bundesrat in der Sommersession gefolgt.
Dagegen wird angenommen, dass sich der Ständerat im Herbst gegen einen Ausstieg aussprechen wird.
Beznau I
Inbetriebnahme: 1969
Vom Netz: 2019
Beznau II
Inbetriebnahme: 1972
Vom Netz: 2022
Mühleberg
Inbetriebnahme: 1972
Vom Netz: 2022
Gösgen
Inbetriebnahme: 1978
Vom Netz: 2029
Leibstadt
Inbetriebnahme: 1984
Vom Netz: 2034
Das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) von Bundesrätin Doris Leuthard beantragt beim Bundesrat eine Verschärfung der Ensi-Verordnung.
Damit sollen die Ausführungsbestimmungen besser dem strenger gefassten Ensi-Gesetz angepasst werden.
Laut Gesetz dürfen die fünf bis sieben Ratsmitglieder «weder eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben noch ein eidgenössisches oder kantonales Amt bekleiden dürfen, welche geeignet sind, ihre Unabhängigkeit zu beeinträchtigen».
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